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Von der seichten Ideologie des besseren Lebens

Verschiedene Strömungen belasten unsere Gesellschaft. Sie alle spielen mit dem, was relativ abstrakt eine bürgerliche Konstitution des Daseins genannt werden kann. Es geht darum, ob eine auf Privateigentum basierende Rechtsstaatlichkeit in alle Richtungen soviel Substanz bewahren kann, das nicht alles wie ein Kartenhaus zusammenbricht. Ständig von Gefahren zu sprechen nutzt nichts, wenn sie nicht konkret benannt werden. Und, bei allen Referenzen an die Berechtigung von Komplexitäts- und Chaostheorien, die Kausalität gesellschaftlicher Handlungen auszublenden, das führt zu Orientierungslosigkeit und Depression.

Die seit Jahrzehnten verfolgte Politik der Bundesrepublik ist relativ leicht zu beschreiben. Sie hat die EU dazu benutzt, den Markt für die im eigenen Land vonstatten gehende Wertschöpfung zu vergrößern. Das lief in der Regel nach einem einfachen Schema. Länder, die aufgrund ihrer eigenen ökonomischen Potenz niemals in der Lage gewesen wären, in ein ernsthaftes Konkurrenzverhältnis zu treten, wurden in die EU aufgenommen. Dann bekamen die Regierungen dieser Länder voluminöse Kredite, mit denen die Waren gekauft wurden, die in der Bundesrepublik produziert wurden. In der Regel waren das Automobile und Waffen. Als die Kredite fällig wurden, gingen diese Länder in die Knie. Und dann rollten unter EU- und IWF-Aufsicht Sanierungsprogramme an, die die Länder nach Manier von Hedgefonds für günstige Käufe dortiger Filetstücke vorbereiteten. Das waren Flughäfen, Häfen, Kraftwerke. Die Bevölkerungen dieser Länder bezahlte die Rechnung, die Bevölkerung der Bundesrepublik haftete für die Kredite. Dass viele Menschen aus diesen Ländern ihrer Heimat den Rücken kehrten, um sich in das gelobte Land zu retten, wurde von den Initiatoren dieser Politik billigend in Kauf genommen.

Und an diesem Punkt setzten die hiesigen Rattenfänger die Agenda. Sie deklarierten die Opfer der Politik des Exportimperialismus zu Schmarotzern unserer Sozialsysteme und versuchen, den Unmut über diese Politik von der eigentlichen Ursache abzulenken und Sündenböcke dafür zu finden. Das wachsende Ressentiment gegen Migranten ist ein Indiz dafür, dass dieses zum Teil gelingt und beschreibt damit auch die eigentliche Aufgabe, die sich daraus ableitet: Die notwendige Internationalisierung des Widerstandes gegen Expansionismus und Plünderung. Das trifft übrigens gleichermaßen auf Kriege wie auf Märkte zu. Die Regime-Change-Politik im gesamten Nahen Osten ist das Pendant zu der Erzwingung neuer Märkte innerhalb der EU.

Das alles wäre kaum machbar, wenn nicht eine Ideologie in den Köpfen vieler verbreitet wäre, die eine moderne, hochpolierte Version des deutschen Wesens darstellt, an dem die Welt genesen soll. Da wird viel von Werten gesprochen, gemeint ist jedoch in der Regel  die Bewunderung des eigenen Überlegenheitswertes, der in allerlei Ornamenten über gesundem Leben, Vegetarismus, Nachhaltigkeit und Ökologie zu finden ist. Es ist zwar oft so platt, dass es kaum zu glauben ist, aber manchen von diesen Weltverbesserern baden sich in der eigenen Agenda, wenn sie einen Helm auf dem Fahrrad tragen, über kein Auto verfügen und keinen Fernseher besitzen. Vielleicht ist das auch der Grund für die Ignoranz gegenüber dem sonstigen Weltgeschehen, bei dem es zumeist um das nackte Überleben geht und von wo aus die Besserwisserei des dekadenten Abendlandes aussieht wie der blanke Zynismus. 

Die drei Stränge müssen analytisch zusammengebracht werden: Der Expansionismus, die damit verbundenen Interessen, die Gemeinsamkeit der Verlierer und die seichte Ideologie eines besseren Lebens.

Zu lesen wie ein pathologischer Bericht

Unabhängig von den Themen, mit denen sich Politik zu befassen hat und sogar in Kontexten wie dem Feuilleton, in Deutschland ist das Instrument der Analyse relativ stark in Vergessenheit geraten. Dabei hatten es sogar mehrere Generationen in der Schule noch gelernt. Wenn du ein Phänomen analysieren willst, dann beginne zunächst mit einer möglichst neutralen Beschreibung dessen, was du untersuchen willst. Unterlass es, wertende Adjektive und Zuschreibungen zu benutzen. Versuche einen kühlen Blick zu entwickeln. Wenn du das Phänomen beschrieben hast, dann mache dich an die einzelnen Bestandteile und Erscheinungsformen. Eines nach dem anderen, in der gleichen Weise, fertige Beschreibungen der Details an, ohne parteiische Einwürfe. Und wenn die Erscheinungsebenen freigelegt sind, dann versuche, die Kausalitäten der Einzelteile in Bezug auf das Gesamte zu entschlüsseln.

Eine Analyse ist das Handwerk, mit dem der Mensch zu aufgeklärten Urteilen kommen kann. Sie zu beherrschen, erfordert Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie Disziplin. Eine Analyse ist ein kognitiver Prozess. Und kein emotionaler. Und genau da liegt das Problem des zeitgenössischen bundesrepublikanischen Mainstreams.

Material für diese Behauptung liefern zum Beispiel, um gar nicht erst in die hoch emotionalisierte politische Tagespolitik gehen zu müssen, Rezensionen zu Büchern und die Foren, die diese kommentieren. Davon gibt es Tausende und folglich hoch illustres und illustrierendes Material. Auch die Rezension eines Buches, egal ob Roman, Biographie oder Geschichtswerk, muss, sollte es eine bestimmte Qualität besitzen, dem notwendigen Handwerk der Analyse folgen. Zunächst sollte Autorin oder Autor, Land, Zusammenhänge und Zeit vorgestellt werden, dann der Inhalt geschildert, mit ähnlichen Werken verglichen, Vorzüge und Nachteile zu den anderen Werken angezeigt und zum Schluss, ganz zum Schluss eine Empfehlung zur Lektüre angefügt werden. Das ist aber nur ein Nebenprodukt, denn eine gute Rezension geht von einer Leserschaft aus, die sich selbst ein qualifiziertes Urteil bilden kann. Letztendlich geht es um eine Leseempfehlung.

In den Foren allerdings geht es um schnelle Urteile und Meinungen, und allein die Nennung der Autorenschaft reicht zuweilen aus, um heftigste Auseinandersetzungen unter der Kommentatorenschaft auszulösen. Schnell stehen sich zwei Lager gegenüber, die sich übel beschimpfen, als ginge es um Leben und Tod. Und tatsächlich geht es um Haltungen und Meinungen. Besonders empfehlenswert sind die despektierlichen Debatten um Bücher zu Russland und dem Ukrainekonflikt. Der letzte Eindruck, der bei der Lektüre der Kommentare entsteht, ist der, dass man es mit einer Buchrezension zu tun hat. Aber, und das sollte uns allen bewusst sein, es ist realer, nicht zu verdrängender Bestandteil einer Diagnose am Geistes- und Gemütszustand einer Gesellschaft. Politische Artikel in Online-Portalen komplettieren diese Sichtweise, da geht es noch unbedenklicher im Umgang und noch scheußlicher in Bezug auf die qualitativen Mittel der Bewertung zu.

Zum einen ist es eine Katastrophe, dass die handwerklichen Mittel der Analyse nicht mehr zum Grundbesteck der Schulbildung zu gehören scheinen. Zum anderen ist es beschämend, dass diese im gesellschaftlichen Diskurs keine Rolle mehr spielen und jeder emotionale Infantilismus mehr beklatscht wird als eine brillante Idee. Die Basis für den Zerfall der kognitiv-analytischen Zivilisation und Kultur ist das Primat der moralischen Überlegenheit. In Deutschland, in Deutschland!, wurde wieder ein Wesen entdeckt, das sich als Modell der Überlegenheit begreift. Hier, so maßt sich das neue geistige Barbarentum an, leben die besseren Menschen, an deren Wesen die Welt genesen soll. Sie sind ein Atavismus, ein Rückfall in jene Stunden der hiesigen Geschichte, die immer noch zu lesen ist wie ein pathologischer Bericht.

Voll auf Sekte

Als letzter Spot vor den Hauptnachrichten in der ARD kommt des öfteren die Werbung für eine Bank. Es geht, natürlich, um deren revolutionär gute Leistungskraft. Letzteres wird entlehnt der unglaublichen Zielstrebigkeit der Deutschen generell. „Sind wir Deutschen noch normal“, so beginnt eine Suggestivsequenz, in der auf den politischen Willen verwiesen wird, die Energiewende tatsächlich hinzubekommen. Wer sich so etwas vornimmt, so die Botschaft, der ist zu allem fähig. Wir Deutschen sind es, die sich mit solchen Zielen von der Welt abheben. Vielleicht ohne es zu wollen, packen die Werbefachleute die potenzielle Kundschaft genau da, wo diese am labilsten ist: An ihrem Überlegenheitsgefühl und ihrem Prestigedenken. Ja, wir sind schon tolle Hechte, wir Deutschen.

Das Sendungsbewusstsein gehört nun schon seit mindestens einem Vierteljahrhundert zum Gestus derer, die den großen Krieg nicht mehr erlebt haben und deren politische Arbeitsfelder mit dem Ende des Kalten Krieges brachlagen. Anti-Militarismus, Anti-Imperialismus und bloßer Pazifismus waren passé, alles war gerichtet für den sanften Aufstieg in eine neue Mittelklasse, die sich nur zu bereitwillig von ihrer eigenen Geschichte lossagte. Zyniker nannten die politischen Konvertiten gerne eine Renaissance der „Zurück, oh, Mensch, zur Mutter Erde“-Bewegung der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Und, von der Themenwahl, mit der sich diese neue Kraft auch politisch formierte, ähnelte sie dieser in sehr starkem Maße. Denn sie wirkte zunächst einmal unpolitisch, bis auffiel, dass sie Ernährungsgewohnheiten, Sexual- und Kaufverhalten über jedes Maß politisierten, während sie soziale Lebensbedingungen, Fragen der Gerechtigkeit und Friedenserhaltung bewusst bagatellisierten. 

Der Trugschluss derer, die entweder an der politischen Vorgeschichte dieser neuen Klasse beteiligt waren und auch zum Teil derer, die ihr ein politisches Mandat verliehen, war der, dass sie glaubten, es noch mit einer politischen Bewegung zu tun zu haben. Das ist, zumindest wenn die Dialektik zum Instrumentarium der Betrachtung gehört, einerseits richtig und trivial und andererseits nur der Schein von etwas anderem. Denn aus sich selbst heraus war der neue Stand nur noch egoistisch auf seine Interessen bedacht, er verstand es aber, die Illusion einer allgemeinen politischen Interessenvertretung auch bei denen zu suggerieren, die sie nur wählten, ihr aber nicht angehörten.

Und so erleben wir heute einen neuen bildungsbürgerlichen Mittelstand, der den Mächtigen in diesem Land in keiner Weise mehr weh tut, solange ihm  die Stimmen dazu reichen, sich selbst nach den eigenen Bedürfnissen zu bedienen. Alles, was das Gros der Bevölkerung heute an Bevormundung und Schikane ärgert, ist zumeist den Bedürfnissen der in dieser Klasse vereinigten Sonderlingen zu verdanken, die, im übertragenen Sinne, unablässig an allem kränkeln, was ihren Gewohnheiten fremd ist. Und ihr etabliertes Refugium zu erhalten, das ist ihr ganzes Ansinnen.

Alles, was diesem Partikularinteresse und der ihm zugrunde liegenden Werte entgegensteht, wird als feindliche Bedrohung gesehen und daher rigoros bekämpft. In dieser Auseinandersetzung werden selbst eigene Werte geopfert, solange das hilft, die eigene, gefühlte Bedrohung zu eliminieren. Der eigene Kanon von Interessen und den dazugehörigen Werten und Ritualen wird in dieser Auseinandersetzung überhoben. Was herauskommt, ist die wohl sektiererischste Erscheinung in der westlichen Zivilisation.  Diese pseudo-alternative und nicht von ungefähr archaisch daher kommende Lebensweise wird, so der Glaube, die restliche Welt beglücken. Der neue Mittelstand, dessen Stimme so stark ist, dass sie über die Grenzen in andere Länder ertönt, ist voll auf Sekte. An diesem Wesen, so glauben ihre Mitglieder, soll die Welt genesen. Eine Weise, die manchen noch geläufig ist.