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Detroit reloaded?

Das einstige Symbol für Boom und Prosperität ist in diesen Tagen endgültig zu einem konträren Bild mutiert: Detroit, der Stadt des amerikanischen Kapitalismus, der Sonne der Mobilitätsindustrie schlechthin, wurden förmlich die Lichter ausgeschossen. John Lee Hooker, der selbst einige Jahre seines Lebens an Detroits Produktionsbändern gestanden hatte, ahnte es vielleicht, als er dort sein Boom Boom Boom Boom einspielte. Für europäische und vor allem deutsche Städte undenkbar, im Land der losen Sicherheitsnetze aber gar nicht so abwegig, erklärte die Stadtverwaltung Detroits in der letzten Woche die Insolvenz.

Die Geschichte des Niedergangs ist in diesen Tagen überall nachzulesen. Hatte die Stadt in den fünfziger Jahren noch 1,8 Millionen Einwohner, so sind es heute noch gerade einmal 700.000. Mit der Krise der Automobilindustrie fing der Abstieg an, die architektonische wie ausgabenbezogene Megalomanie kam recht abrupt zum Ende, die Arbeitsplätze zerbarsten wie die Luftblasen, die Kreativen zogen ab, dann der weiße Mittelstand. Es wurde leer, die Immobilien verfielen und deren Preise gingen in den Keller. Der durchschnittliche Preis für ein Einfamilienhaus beträgt momentan 10.000 Dollar. Heute sind 80 Prozent der Bewohner Afro-Amerikaner, die durch Straßen flanieren, die das Diktum aktivieren, die Erde sei unbewohnbar wie der Mond.

Und obwohl das Deskriptive an vieles erinnert, was man vorher aus den Kohlegebieten um Pittsburgh gelesen hatte und auch so mancher Erfahrung aus Englands Black Country oder dem deutschen Ruhrgebiert ähnelt, ist die Feststellung der Insolvenz der Kommune noch einmal eine andere Sache. Eine Stadt, die es sich nicht einmal mehr leisten kann, die Batterien der Parkuhren zu wechseln und, schlimmer noch, die basalen Gesundheitsinstitutionen zu finanzieren, die braucht Hilfe, oder sie geht unter.

Die USA wären nicht die USA und der Kapitalismus wäre nicht der Kapitalismus, wenn es nicht eine Kraft gäbe, die sich über Ideologien hinwegsetzte und in rasendem Tempo Energien freisetzte, die Neues in sich bergen. Schon wird die Finanzierung der Gesundheitsversorgung durch ein Regierungsprogramm diskutiert und vorbereitet und schon hat eine Gentrifizierung eingesetzt, die alles, was es bisher gab, in den Schatten stellen könnte. Aufgrund der unglaublich niedrigen Preise und der ungeheuren Leerstände geht der Teil der kreativen Klasse nach Detroit, der selbst noch weit von der Verbürgerlichung entfernt ist und somit die produktiven Energien in sich birgt, um Revolutionäres gestalten zu können. Innerhalb der USA spricht man bereits von einem neuen Portland oder Brooklyn und vieles deutet darauf hin, dass es eher zu einer Rekonvaleszenz als zu einem Untergang kommt.

Natürlich kann man angesichts der desaströsen Situation in einer Stadt wie Detroit über die Destruktionspotenziale des Kapitalismus räsonieren. Und natürlich gibt es sie. Was beeindruckt, ist der Pragmatismus, mit dem der Innovation der Weg bereitet wird. Während das europäische Paradigma immer daraufhin deutet, als Prämisse für etwas Neues einen institutionellen Rahmen schaffen zu müssen, resultiert die amerikanische Innovationsgeschwindigkeit immer aus dem Spielraum, den individuelle Initiativen dort erhalten. Es spricht vieles dafür, dass aus dem typisch amerikanischen Desaster, wie es in Europa wieder einmal interpretiert wird, ein inspiratives Set für neue Denkansätze wird. Wie vormals in Pittsburgh, wie in San Antonio oder in Boston. Genaues Hinschauen und Lernen wäre ratsamer als die wiederholte, schale Entrüstung.

Ein Logbuch der amerikanischen Seele, eine zeitgeschichtliche Enzyklopädie

Geert Mak. Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten

John Steinbeck, der große Erfolgsautor Amerikas in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, hatte gegen Ende seiner Schriftstellerkarriere das Gefühl, dass ihm sein eigenes Land mental entglitten war. Während er viele Jahre durch die Welt reiste, hatte das Amerika, das er von der Pike auf kannte, enorme soziale und politische Umwälzungen erlebt, denen er nachspüren wollte. Im Jahr 1960 machte er sich mit dem Hund seiner Frau, Charley, in einem Pickup auf die Reise durch das große Land, von der Ostküste entlang der großen Seen zum Pazifik, die kalifornische Küste entlang und dann von West nach Ost, von Monterey bis New Orleans.

Genau fünfzig Jahre später, 2010, machte sich der niederländische Journalist Geert Mak, dem wir so grandiose Bücher wie Das Jahrhundert meines Vaters und In Europa verdanken, auf die Spuren dieser Reise John Steinbecks. Unter dem Titel Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten versucht Geert Mak die Seele des Amerikas, das so erfolgreich immer wieder mit Klischees behaftet wird, zu rekonstruieren. Dabei gelingt ihm ein Kunststück, das für seinen großartigen Journalismus spricht und das Buch zu einem Muss machen wird für alle, die sich mit der Befindlichkeit der USA ernsthaft auseinandersetzen wollen: Zum einen rekonstruiert Mak die Reise Steinbecks und vergegenwärtigt mit ihr die Zeit und den Wandel der USA vom Kriegsende bis 1960, zum anderen zeigt er Tendenzen und Entwicklungen im neuen Jahrtausend auf und benutzt diese als Kontrastmittel für das, was Steinbeck erlebte.

Das Reisetagebuch Geert Maks ist vieles in einem: eine Reisedokumentation im ursprünglichen Sinn des Wortes, eine kritische Hinterfragung des selbst Erlebten durch atemberaubende Recherchen und eine wissenschaftliche Hinterlegung der eigenen Schlüsse, von Materialen aus der Sozialstatistik bis hin zu neuesten Versionen der zeitgenössischen Historiographie und der politologischen Deutung. Mak ist nicht nur die Strecke abgefahren, sondern er hat jahrelang recherchiert, um der Leserschaft diese Qualität präsentieren zu können.

Die Ergebnisse, die dieses Reisetagebuch enthält, bestätigen vieles, das die kritische Rezeption dieses Kontinents der Neuen Welt bereits wusste: Dass dort nichts so ist, wie es scheint, dass die Geschichte bis zum Stichtag 1960 geprägt war von Mühsal und Arbeit für das Gros der Bevölkerung, dass es immer nach oben ging, woraus sich der berüchtigte Optimismus erklären ließ, dass die Provinz die Mentalität dieses Landes viel mehr prägt als die Metropolen, dass viele Entwicklungen, vor allem in Ökonomie und Politik, den späteren europäischen Weg stark beeinflussten und dass das kollektive Bewusstsein und das Zusammengehörigkeitsgefühl lange Zeit prädestiniert war durch das Momentum einer Überlebenselite.

In einer sehr lesbaren Sprache, die daherkommt wie ein gelungenes Echo einer steinbeckschen Diktion, erzählt Geert Mak von seinen Erlebnissen, in deren Zentrum immer wieder die Protagonisten des wahren Amerikas stehen: die Verkäuferinnen und Bedienungen, die LKW-Fahrer und die Bauern, die Jäger und die Buchladenbesitzerinnen, sie alle sprechen zu uns über diese geniale Komposition Maks, der es nicht belässt bei der historischen Dimension, sondern die Linie bis ins Heute zieht. Im Resümee steht das Ende des American Way of Life und die versteckte Prognose, dass die USA in ihrer Entwicklung die Grenzen erreicht haben, die Europa, das Mutterband dieser gesprochenen Geschichte, bereits seit langen Zeiten kennt. Ein grandioses Buch, ein Logbuch der amerikanischen Seele und eine zeitgeschichtliche Enzyklopädie.