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Nach Katar: Kann man in Deutschland die Europameisterschaft 2024 abhalten?

Ein immer kluger wie geistreicher Beobachter des Zeitgeschehens schrieb vor kurzem, wie es wohl sei, wenn ausländische Fernsehteams sich Zugang zu den Schlachthäusern eines gewissen Fleischproduzenten in Gütersloh verschafften und dort Aufnahmen über die Arbeitsbedingungen wie die Wohnverhältnisse der ausländischen Leiharbeiter machten. Und dieses Material angesichts der anstehenden Fußballeuropameisterschaft 2024 in Deutschland dazu nutzten, die Frage zu stellen, ob es angemessen sei, in einem solchen Land das Turnier abzuhalten. Die Frage ist mehr als berechtigt und sie zeigt das ganze Dilemma. Es herrschen unerträgliche Verhältnisse und Ungerechtigkeit auf dieser Welt und wenn man richtig sucht, so findet man das Übel tatsächlich überall.

Wer kennt nicht die Berichte aus den USA, wo in eigentlich blühenden Metropolen Tausende auf der Straße schlafen oder in ihren abgetakelten Autos leben. Wer kennt nicht das Schicksal der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Fleischindustrie, das der Erntehelfer oder das der Paketboten hierzulande, wer kennt nicht die Hungerküchen für Beschäftigte im englischen Gesundheitswesen? Die Liste lässt sich beliebig verlängern, ohne dass die noch weitaus längeren Listen aus Afrika, Südamerika oder aus Asien vergessen wären. Was bleibt, wenn zumindest ein Funken Ehrlichkeit vorhanden ist, ist die Erkenntnis, dass die sozialen Verhältnisse weltweit noch einer gewaltigen Verbesserung bedürfen.

Sich in einer derartigen Gemengelage zum Richter über die Verhältnisse anderer Länder machen zu wollen, entspricht einer großen Portion Verlogenheit. Wer nur das Negative auf der Welt sieht, sollte lieber Hand an sich legen, als zu versuchen, den Rest der Welt aufgrund von Feindbildern sich ebenbürtig machen zu wollen. Kurz: Die moralische oder wie auch immer begründete Erhebung über andere ist das Werk mieser Charaktere. Davon existieren genug auf dieser Welt, nur sollte man ihnen nicht die Regie überlassen.

Bleiben wir bei dem eingangs erwähnten Gedankenspiel. Wie wäre es, das bevorstehende europäische Fußballturnier hier in Deutschland dazu zu nutzen, die hiesigen Verhältnisse anzuprangern. Und, gemäß der mit vollem Spektakel abgewickelten Kampagnen gegen alle Fußballweltmeisterschaften und Olympiaden der Vergangenheit gegen die Gastgeberländer, sofern sie nicht dem westlichen Bündnis angehören, jetzt ein Feuerwerk der Kritik abzubrennen. 

Stoff gibt es genug. Da gibt es die Einschränkungen der Grundrechte, das Nicht-Ahnden von Steuerflucht, einen neuen Radikalenerlass im öffentlichen Dienst, miserable Arbeitsbedingungen, fortschreitende Armut, Bildungsdefizite en masse, eine marode Infrastruktur, eine Doppelmoral, die es zur Staatsräson geschafft hat und im Kontrast dazu Unsummen, die in die Aufrüstung und in den politisch motivierten Waffenexport fließen. Wie, so stellt sich die Frage, kann man da die Chuzpe besitzen, andere zu einem auch hier total kommerzialisierten Sportfest einladen und so tun, als sei alles in bester Ordnung. 

Und dieselben, die in Katar mit einer Symbolbinde und Leichenbittermiene auf der Tribüne standen, werden lächelnd die gute Atmosphäre bei diesem Sportereignis im liberalsten Land der Welt loben, in dem allerdings, bleiben wir bei den Fakten, bis heute kein Akteur sich getraut hat zu outen. Und was beim Fußball hinsichtlich der sexuellen Orientierung gilt, macht sich mit rasender Geschwindigkeit im Bereich der Politik und der sie betreffenden Meinungsfreiheit breit. Ein Gesetz nach dem anderen wird verabschiedet, welche eine anderes Weltverständnis unter Strafe stellen. Mal als Desinformation, mal als Delegitimierung der Regierung. 

Kann man an einem solchen Ort Fußball spielen? Ja, gerade dort, man muss ja nicht den Mund halten. 

Ein aberwitziges Synonym

Es ist seltsam. Immer wieder kursieren dieselben Zeilen in den Nachrichten. Die internationalen Geldgeber sind mit ihrer Geduld am Ende. Es werde endlich Zeit, dass Griechenland mit ernst gemeinten Reformen beginne. Vor allem der Internationale Währungsfonds betont unablässig die Notwendigkeit einer Neustrukturierung der staatlichen Verwaltung. Der deutsche Finanzminister versendet analoge Botschaften. Die griechische Regierung hingegen wird dargestellt als ein Konsortium von Verweigerern, die genau das Gegenteil von Reformen im Sinn haben und auf Zeit spielen. So entsteht der Eindruck, dass das Land der Schuldenmacher in den falschen Händen liegt und es so nicht weitergehen kann. Der Grexit, d.h. das Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro, wird nicht mehr als Schreckgespenst, sondern als Lösung angesehen.

Die Darstellung über die griechischen Verhältnisse, wie sie hier in der Öffentlichkeit existiert, steht in einem seltsamen Kontrast zu dem, was z.B. Vertreter der griechischen Regierung zum Besten geben, wenn man sich die Mühe macht, diese auch einmal zu fragen. Mittlerweile belegbar sind verschiedene Ersuchen seitens der griechischen Regierung an die Kreditgeber, sie bei strukturellen Reformen der Verwaltung mit Expertise und Know-how zu unterstützen. Denn tatsächlich ist sich auch Syriza bewusst, dass ineffektive Sektoren der Verwaltung ebenso existieren wie überflüssige. Das ist übrigens keine griechische Besonderheit, man sehe sich nur die jährlichen Berichte des Bundes der Steuerzahler hierzulande an.

Syriza geht allerdings davon aus, dass ein demokratisches Staatswesen, das den Namen verdient, zumindest gesellschaftlich notwendige Leistungen bereitstellt, von denen der freie Markt einen Großteil der Bevölkerung ausschließen würde. Die Leistungen, die laut der griechischen Regierung dazu gehören, sind die Versicherungssysteme bei Gesundheit und Alter, das Gesundheitssystem, Bildung und Infrastruktur. Die Regierung möchte auch diese Sektoren effektiveren und stellt den Rest der Verwaltung für weitere Reformierungen zur Disposition.

Nun sollte man meinen, dass ein derart differenzierter und vernünftiger Standpunkt von den Geldgebern honoriert werden müsse. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Antwort der Troika-Unterhändler ist auf die wiederholten Anfragen nach Unterstützung immer gleich geblieben: Reformen, wie ihr euch das vorstellt, können wir nicht. Wir kennen nur Kürzen! Damit ist die Strategie des freien Westens wieder einmal recht deutlich konturiert. Es geht darum, die essenziellen Funktionen eines demokratischen Staatswesens auszubeinen und zu filetieren, um sie danach zu privatisieren. Deregulierung, Liquidierung und Privatisierung sind die Maximen, nach denen das griechische Gemeinwesen momentan zerschlagen werden soll. Die Strategie folgt dabei einem Muster, mit dem vorher ein Großteil des alten Ostblocks saniert wurde.

Für die südeuropäischen Länder, denen momentan eine Sanierung á la Troika anempfohlen wird, ist es sinnvoll, ihren Blick auf Ökonomien wie die Polens zu werfen, um zu sehen, wie die eigene Zukunft aussehen könnte. Das Musterland des nach-kommunistischen Wirtschaftsliberalismus befindet sich längst in einer tiefen Stagnation. Es ist politisch erpressbar und nicht umsonst eines der aggressivsten Elemente hinsichtlich der NATO-Osterweiterung. Große Teile der Bevölkerung fristen ihr Dasein unter prekären Arbeitsverhältnissen und ohne gesellschaftliche Teilhabe, die Trennung zwischen Stadt und Land, Arm und Reich ist so brutal wie noch nie. Die Sanierungsprogramme der Troika folgen diesem Muster, eine Reform im Sinne einer positiven Gestaltung des Gemeinwesens ist von ihr nicht zu erwarten. Es wird höchste Zeit, die Täuschungsmanöver zu kompromittieren, in denen die Begriffe Reform und Zerschlagung synonym gebraucht werden.

Die Rendite des Washington Consensus

Das Kalkül ist so kalt wie der Schwanz einer Natter. Seit den achtziger Jahren des letzten Jahrtausends, als die Chicago School of Economics die geistige Herrschaft im Internationalen Währungsfond (IWF) übernahm, wurden verschiedene Kontinente und deren Länder von einer Doktrin überzogen, die mittlerweile auch in der Literatur mit dem Begriff des Schocks bezeichnet wird. Das, was als eine Ideologie von puristischen Marktwirtschaftlern bezeichnet werden muss, trug seitdem den irreführenden Namen des Washington Consensus. Mit dem unterstellten Konsens waren nicht die Länder gemeint, deren Schicksal mit der Doktrin bestimmt wurde. Konsens herrschte lediglich in den Kreisen der Designer der Rezeptur.

In den achtziger Jahren wurde diese Rezeptur vor allem Staaten in Südamerika verabreicht. Staaten, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten waren, mussten die bitteren Pillen schlucken, die auf dem Zettel des Washington Consensus standen. Heute kennt sie jeder: Geldverknappung, Liberalisierung des Marktes, Deregulierung und Privatisierung. Unabhängig von der spezifischen Struktur der Länder, die in die Krise geraten waren, das Rezept blieb das gleiche. Aus der Krise, die bestand, wurde ein Strukturwandel abgeleitet, der in der Regel Schlimmeres bereit stellte. Alles, was zur nationalen Identität beigetragen hatte, wurde eliminiert. Infrastrukturen zerschlagen, Sozialsysteme abgeräumt und Bildungsinstitutionen, wie armselig sie auch sein mochten, wurden dem Erdboden gleichgemacht. Das Resultat war eine Umverteilung des Reichtums: Wohlstand für Wenige, Armut für die Massen.

Lateinamerika folgten in den neunziger Jahren viele Staaten des ehemaligen Ostblocks und zur Jahrtausendwende Teile Asiens, vor allem deren Tigerstaaten. Und seit der ersten Dekade des neuen Jahrtausends sind es die Staaten, in denen die Arabellion für kurze Zeit Hoffnung auf neue Wege aufkeimen ließ. Ein Spezifikum sollte bei der Auflistung nicht außer Acht gelassen werden: Nach dem Niedergang des so genannten sozialistischen Lagers und der Marktliberalisierung in vielen dieser Staaten war es auch im europäischen Westen zumindest teilweise mit der Vorstellung eines eigenen Weges, der unter der Chiffre Soziale Marktwirtschaft lief, vorbei. Alles, was hierzulande als Demontage dieser Architektur zu beobachten ist, läuft nach der Rezeptur des Washington Consensus. Die Art und Weise, mit der die südeuropäischen Staaten bei den laufenden Krisen-Programmen unter der aktiven Mitwirkung des IWF traktiert werden, entspricht dem alt bekannten Dreischritt: Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung. Jetzt ist die Rosskur auch vor der europäischen Haustür angelangt.

Trotz der verheerenden Wirkungen dieser Programme spricht nichts für eine Kurskorrektur. Die Bundesregierung, federführend der deutsche Finanzminister, sind vehemente Verfechter der Ideologie des freien Marktes, der alles richten wird. Nur den Bedürfnissen der jeweiligen Nationen, denen entspricht er nicht. Dass nun, ausgerechnet aus Staaten, die bewusst seit der Jahrtausendwende destabilisiert und dann mit den Radikalkuren des IWF überzogen wurden und dessen Kredite dazu genutzt wurden, u.a. in deutschen Waffenschmieden großzügig einzukaufen, um die Gewinner in diesen Ländern an der Macht zu halten, dass nun aus diesen Ländern die Ärmsten der Armen die letzte Hoffnung in den wirtschaftlich prosperierenden Zentren suchen und sich in Nussschalen werfen, um dem Elend über das Mittelmeer zu entfliehen, ist nur folgerichtig.

Nun wird darüber nachgesonnen, wie man das menschliche Strandgut in den Ländern, aus denen sie fliehen, halten könne. Es ist eine rhetorische Frage, die an Zynismus nicht mehr zu überbieten ist. Jede Kreatur, die in den Wogen des Mare Nostrum ersäuft, ist eine Rendite auf den Washington Consensus.