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Das Kuriose des Fortschritts

Der Fortschritt ist ein eigentümliches Wesen. Immer wieder wird er herbeigewünscht. Und viele, die sich für ihn engagieren, sind dazu verurteilt zu scheitern. Oft opfern sie Jahrzehnte ihres Lebens, um ein wichtiges Ziel auf dem Weg zu erreichen, den man den Fortschritt nennt. Und nicht selten kommt es dann alles ganz anders. Die Mütter und Väter der Vision, die den Fortschritt beschrieben, sind längst nicht mehr unter uns und zieren die Friedhöfe, die Kämpferinnen und Kämpfer, die Aktiven, die Pioniere, die Promotoren haben sich verschlissen auf dem langen Weg der Hindernisse und Konfrontationen und irgendwann tauchen andere auf, völlig ausgeruht und ahnungslos, und gerade sie, die Leidlosen, sie lösen etwas aus, was die Sehnsucht vieler Erfolgloser war.

So brutal kann die Geschichte sein, oder, um realistisch zu bleiben, es ist ihre immer wiederkehrende Ironie. Nur sollte man sich davor hüten, die Früchte des Fortschritts, die so epigonal geerntet wurden, wegen der Leichtigkeit ihrer Lese zu verschmähen. Vielen ist die Ernte, die der Scharlatan von seiner Schlenderei beiläufig mit nach Hause bringt verdächtig, man traut ihr nicht, weil man die Plagen und Schindereien kennt, die aufgewendet wurden, um an sie heran zu kommen und es dann doch nicht tat. Dieses Phänomen ist die Folge des Leids, das aufgewendet wird, um etwas zu erreichen, dass man dann nicht bekommt. Das Leid trübt Blick und Urteilskraft.

Und genau so kann man manche Vereinbarung lesen, die im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD jetzt steht. Diese Ergebnisse sind allesamt kontrovers diskutierbar, aber sie enthalten auch Schritte, die zweifelsohne als große auf dem Weg des Fortschritts beschrieben werden könnten. Jeder Mensch hat natürlich seinen eigenen Blickwinkel, aber das wohl Rückständigste der Republik der letzten vierzig Jahre war die Phantasie von den essentiellen Voraussetzungen, die mitgebracht werden mussten, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Der reaktionäre, rasseorientierte Rekurs auf das ius sanguinis, das Recht des Blutes, war nicht nur ein Schlag in das Gesicht einer Demokratie, sondern führte zu Kuriosa, die bis zur Hebung von Stalin zwangsumgesiedelter wolgadeutscher Urgroßmütter, die im fernen Kasachstan gehoben wurden, um ein Passbegehren im rheinischen Düsseldorf zu begründen während im Hier und Jetzt geborene Kinder von Immigranten über diesen Schmarren den Kriegsdienst im fernen Kurdistan garantiert bekamen.

Alles Gerede über Demographie und das Ende des Wachstums ruhten auf diesem Gerümpel völkischer Ideologie und jede Barriere bei einer erfolgreichen Integration derer, die sich für dieses Land entschieden haben, ließ sich darauf zurückführen. Sollten die Mitglieder der SPD dem vorgelegten Koalitionsvertrag zustimmen, dann ist das ius sanguinis durch das ius soli, das Recht des Bodens abgelöst. Dann bekommt jedes Kind, das auf deutschem Boden geboren wird, einen deutschen Pass. Bei Migrantenkindern wird es dann zwei Pässe geben und erst mit der Volljährigkeit muss sich die Mitbürgerin oder der Mitbürger entscheiden, welche Nationalität er oder sie endgültig wählt. Das ist bürgerlich im wahren Sinne des Wortes. Das entspricht dem Format einer Demokratie. Das entspricht der Würde dieser Menschen. Und das entspricht der Zeit, in der wir leben. Es ist ein Fortschritt. Und lassen wir uns den Blick nicht trüben durch das Leid, das hinter jenen liegt, die schon immer vergeblich dafür kämpften und das Spielerische, mit der die SPD es jetzt erreicht hat. Wenn dieses Gesetz in Kraft tritt, sollten wir kräftig feiern, denn zur selben Zeit mit dem Fortschritt am selben Ort zu sein, dieses Privileg wird uns nur selten zuteil.

Die Stunde der Patrioten

Die Geschichte, so das geflügelte Wort von Karl Marx, hat die Eigenart zumeist zwei Varianten ein und desselben Ereignisses vorzuführen. Was sich bei der Premiere bereits als Tragödie erweise, habe bei einer späteren, zweiten Inszenierung nur noch das Zeug zur Farce. Marx wäre nicht Marx gewesen, hätte er nicht einen derartig beißenden Zynismus für derartige Beobachtungen parat gehabt. Denn, betrachtet man in dieser Weise beschriebene Ereignisse, so führen sie zumeist eher zu einer Sprachlosigkeit im Angesicht von menschlichem Unvermögen und individueller Niedertracht.

Als am 16. Dezember 1773 als Indianer verkleidete Bürger im Hafen von Boston die besteuerten Teeladungen, die für den Sitz des britischen Kolonialreiches bestimmt waren, dem Brackwasser zum Fraß vorwarfen, setzten sie nicht nur das erste Fanal für die amerikanische Unabhängigkeit, sondern sie definierten bereits den Ansatz für die anti-koloniale Revolte. Das war couragiert und hatte etwas in sich, das mit der nur positivsten Interpretation einer patriotischen Handlung zu tun hatte. Wenn diese Aktion etwas Tragisches hatte, dann war es der symbolische Verweis auf die Indianer, die in dem neuen, unabhängigen Amerika ihre Identität nicht behaupten konnten und als ein Relikt vor der Zeitrechnung der Moderne gewaltsam in das Aus ihrer eigenen Geschichte gedrängt wurden.

Dass ausgerechnet im Jahr 2008 der weißeste, unduldsamste und reaktionärste Flügel der US-amerikanischen Republikaner sich dieses Initials der amerikanischen Demokratiegeschichte bemächtigte, um dem ersten aussichtsreichen Kandidaten auf die Präsidentschaft mit schwarzer Hautfarbe den Kampf anzusagen, war von vorneherein eine Farce. Die historische Bostoner Tea-Party war bereits ein Kampf gegen die blasierte angelsächsische Elite mit ihren Privilegien. Diese nun zu missdeuten und sie gegen einen emanzipativen Trend in den zeitgenössischen USA einzusetzen, zeugt alleine schon von der Nonchalance wie Frivolität der Akteure. Betrachtet man diese genauer, dann wird allerdings klar, worum es geht, nämlich die Re-Installation eines Gesellschaftszustandes, den es schon lange nicht mehr gibt: Die Herrschaft der weißen, protestantischen und ihrer Attitüde nach angelsächsischen Elite, die das libertäre Waffenrecht mit Patriotismus gleichsetzt, staatliche Vorsorge als bolschewistisches Hexenwerk verteufelt und die Mahnung an die Pflichten des Eigentums als Feldzug gegen die Unverbrüchlichkeit der Freiheit zu denunzieren sucht. Verkörpert Sarah Palin noch das Retro-Flintenweib wie in einem John Wayne-Film und Michelle Bachmann die Gebärmaschine aus den guten alten Anglikanerzeiten, so ist der Texaner Ted Cruz bereits die Steigerung der Metapher von Tragödie und Farce. Als Sohn kubanischer Einwanderer und als neue Hoffnung im Beamtenapparat der Bush-Administration entdeckt verkörpert er jene Affiliation der Hinzugekommenen an die Werte der alten Eliten, die nur noch mit den hierarchischen Funktionsweisen und Zuordnungen aus B. Travens Totenschiff zu erklären sind.

Die Schlichtung im US-Haushaltsstreit kurz vor Mitternacht ist keine Rückkehr des Tea-Party-Flügels der Republikaner zur Vernunft, denn da war nie Vernunft, sondern immer nur der Eigensinn. Und es war keine Rückkehr zum Patriotismus, denn der war dort auch nie, sondern er wurde immer mit Nationalismus und Imperialismus verwechselt. Was die Tea Party in den USA momentan aufführt, sind letzte terroristische Akte einer untergehenden Elite, die nicht mehr mehrheitsfähig ist. Das Einlenken eines Teils dieser Partei in letzter Minute weist darauf hin, dass es die Fundamentalisten vielleicht zu weit getrieben haben und die Republikaner vor einer Spaltung stehen. So wie es aussieht, haben die USA wieder einmal zeigen können, was sie unter Patriotismus verstehen, und das hat mehr mit Demokratie und Perspektive zu tun als mit Privilegien und Geschossen.

Der Makabré der Republikaner

Die Berichterstattung in Deutschland folgt dem alten Muster: Seht euch die USA an, sie sind und bleiben ein Beispiel für eine funktionsschwache Demokratie. Und wie immer wird der erhobene Zeigefinger gespeist aus einer generellen Amnesie, was die eigene Geschichte und die Fähigkeit zu Demokratie angeht. Dabei wäre die Haushaltsblockade durch die Republikaner, erweiterte man den Horizont nur um einige Grade, ein Stoff, den Richard Wagner hätte verarbeiten können. Es sind nicht nur um auf Eis gelegte Budgets, sondern es geht um ein Last Man Standing der ehemals herrschenden Ethnie in der Neuen Welt. Das, was wir dort sehen, ist die Götterdämmerung der White Anglo Saxon Protestants, kurz WASPS genannt, die aufgrund der demographischen Entwicklung bei der Gestaltung der Zukunft des Landes keine Chance mehr haben werden.

Vordergründig handelt es sich um eine Spielart der Demokratie, die nichts Frevelhaftes mit sich bringt. In einer präsidialen Demokratie, in der die zwei Kammern von Kongress und Senat eine sich gegenseitig regulierende Funktion haben, sind momentan unterschiedliche Mehrheiten, und die Republikaner sind aktuell in der Lage, den Haushalt des Präsidenten aufgrund der Mehrheitsverhältnisse blockieren zu können. Dass sie das mit einem Junktim tun, birgt die historische Brisanz. Die Republikaner, oder um es genauer zu sagen, die dortige Tea Party Fraktion, bindet die Freigabe der Budgets an die Bedingung, die Gesundheitsreform Obamas nach hinten zu verschieben. Damit stünde das Kernstück der innenpolitischen Wahlversprechen des Präsidenten zur Disposition. Eine Verschiebung oder Verhinderung dieses Fortschrittes wäre wohl die politische Demontage des ersten Präsidenten, der nicht die Provenienz der WASPS hat. Und darum geht es, um sonst nichts.

Demographisch sehen die Perspektiven der USA bereits heute anders aus, und gerade deshalb ist die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten ein derartiger Weckruf für die konservativen der Republikaner gewesen. Er machte ihnen bewusst, dass die Mehrheitsverhältnisse für die ehemals alte weiße Elite passé sind. Keine andere Szene, als die in dem Film The Good Shepherd, in der es um die Arbeit der CIA im Auftrag der WASP-Elite geht, charakterisiert die jetzige Situation während des Government Shutdowns besser als jener Dialog zwischen einem CIA-Agenten mit einem italienischen Immigranten. Letzterer führt aus, dass die Italiener ihre Küche, die Iren ihren Mythos, die Schwarzen ihre Musik und die Juden ihre Tradition mit in dieses Staatswesen gebracht hätten. Auf die Frage an den weißen CIA-Agenten, was sie, die WASPS denn aufzuweisen hätten, antwortet dieser: Wir haben die Vereinigten Staaten von Amerika, und ihr, ihr seid hier alle nur zu Gast.

Angesichts der wachsenden Anzahl von Latinos, die kurz davor sind, die ethnische Majorität zu definieren, und angesichts weiterer Immigrationsentwicklungen aus den letzten Jahrzehnten ist die Möglichkeit, mit einem Programm für eine weiße Elite Wahlen zu gewinnen, demographisch so gut wie dahin. Die Blockade des Präsidentenbudgets bekommt so den Status eines letzten, verzweifelten Kampfes gegen die Entwicklung hin zu neuen, gänzlich anders konstitutierten USA, die auch in der Repräsentanz der politischen Organe und Gerichte vielfältiger, bunter, toleranter, aber auch komplizierter werden mögen. Das ist auch für die Weltgemeinschaft von großer Bedeutung und eine hoch spannende Entwicklung, zumal analoge Tendenzen auch einmal in Germanistan zur Wirkung kommen werden. Wer in diesem Kontext nach dem Motto „die Amis kriegen mal wieder nichts hin“ seine Kolumnen für den Spiegel o.ä. schreibt, der sollte besser zu einer anderen Rubrik wechseln.