Die Selbstwahrnehmung unserer selbst ist in unserem Kulturkreis von Hybris geprägt. So, als lebe jedes Individuum immerfort, so, als altere niemand, so, als gäbe es nach uns selbst nichts mehr. Insofern ist es folgerichtig, dass der Tod das von allen am meisten gepflegte Tabu ist. Wer vom Tod, das heißt der Endlichkeit spricht, hat den Gesellschaftsvertrag gebrochen. Er negiert die Unendlichkeit des Menschen und der unbegrenzten Verfügbarkeit der Ressourcen, die er braucht, um immer mehr zu produzieren, immer mehr zu konsumieren und letztendlich alles zu ruinieren. Das Paradigma des Wachstums, und zwar des unbegrenzten, ist die Ursache für die Hybris. Die große Illusion der Unendlichkeit wie der Unsterblichkeit ist die Basis einer Gesellschaftsordnung, die täglich mit dem Anspruch ans Werk geht, sich alles untertan machen zu wollen.
Ja, es existieren Nischen. Nischen, in denen die Zweifler nach Begründungen suchen. Begründungen für die Möglichkeit der eigenen Einsicht, dass alles eine große Illusion ist. Begründungen für den Grad der kollektiven Verblendung, die davon ausgeht, es treffe immer nur die anderen, aber nicht das Selbst. Und diejenigen, die die große Illusion identifiziert haben, suchen in diesen Nischen Trost. Trost für das Verhängnis, in das die große Illusion führt, Trost für den Verlust dieser Nano-Sekunde der eigenen Existenz, in der nicht die Selbsterkenntnis steht, sondern die Verblendung. Nur kurz hier, als Gast auf dieser Erde, und beschäftigt mit dem Wahn der Unsterblichkeit.
Nicht, dass die Erkenntnis der großen Illusion schon seit Menschengedenken nicht die Winkel dieser Welt erhellt hätte. In unserem Kulturkreis ist sie wohl am besten mit der Formulierung beschrieben, dass wir alle nur Gast auf dieser Erde sind. Für kurze, kaum zu erfassende Dauer. Und dass wir diese sehr kurze Zeit dazu nutzen sollten, uns gegenseitig zu respektieren und die Grundlagen unserer Existenz zu schätzen. Aber, obwohl der Tod, der jeden Tag durch unsere Reihen schreitet und mit unerbittlicher Hand zeigt, wie es um uns bestellt ist, übertönen die Schreihälse der großen Illusion die Tagesroutine. Da scheint es, als seien wir nicht Gast auf dieser Erde, sondern die Erde ein kleines Utensil, mit dem wir machen können, was wir wollen, in unseren Händen.
Und dennoch: obwohl der Zeitraum unserer Existenz denkbar kurz ist, sollte die Zeit genutzt werden, um aus diesem Bruchteil des Daseins etwas Sinnvolles zu gestalten und einen Beitrag zu leisten, der die Illusion demontiert. Wenn das Tabu des Todes demontiert ist, erscheint die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt als die wohl unsinnigste. Sie erzeugt nichts als ein Grinsen des Sensenmannes. Viel essenzieller ist die Betrachtung, ob ein Leben vor dem Tod existiert. Wie sollte es sein, wenn wir wissen, dass wir einen kurzen Gaststatus haben, mehr nicht. Und wie dann umgehen mit den Demagogen, die so tun, als bleibe alles immer so, wie die Sekunde es erscheinen lässt?
So, wie es aussieht, sind wir jedoch weit entfernt vor der alles entscheidenden Selbsterkenntnis. Zumindest in unserem Kulturkreis. Ist es vielleicht die doch nicht so verborgene kollektive Klugheit, dass wir die Regie denen überlassen, die die große Illusion hochhalten und mit ihr handeln wie mit der begehrtesten Hehlerware, damit sie alles mit einem großen Knall zu ende bringen? Das hätte zumindest einen pikanten dramaturgischen Effekt. Oder nicht?
