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Der Strömung die Stirn bieten!

Charlotte Kerner. Rote Sonne, Roter Tiger. Rebell und Tyrann. Die Lebensgeschichte des Mao Zedong

Die Historiographie hat in den letzten Jahren wieder besonders gelitten. Auch und gerade in Deutschland. Wer geglaubt hatte, dass sich die Darstellung historischer Ereignisse und Figuren so langsam gelöst hätte von einem intendierten ideologischen Zweck, hatte sich geirrt. Das ist betrüblich, aber leider auch nicht zu ändern. Und es ist nicht flächendeckend so. Manchmal ragen ganz plötzlich solche Werke heraus, denen es ganz unspektakulär und ohne großen PR-Aufwand gelingt, eine ganz andere Qualität an die Leserschaft zu bringen, als sie die Fronten zwischen der jeweiligen hysterischen Parteinahme vermuten lassen.

Charlotte Kerner, geboren in Speyer und heute in Lübeck lebend, ist zwar keine Historikerin, sondern Volkswirtin und Soziologin, und sie hat meistens den Beruf der Journalistin ausgeübt. Vielleicht wegen der Koinzidenz, dass sie selbst Ende der siebziger Jahre für ein Jahr in China weilte und die Erdverschiebungen nach dem Tod Mao Zedongs hautnah miterlebte und sicher aus einem vitalen Interesse hat sie sich an eine Biographie dieses Titanen gewagt. Unter dem Titel Rote Sonne, Roter Tiger. Rebell und Tyrann. Die Lebensgeschichte des Mao Zedong ist ihr ein Buch gelungen, das alle lesen sollten, die Interesse an Erkenntnisgewinn besitzen und die Lust verloren haben, sich ideologisch belehren zu lassen.

Denn die Stärke von Kerners Buch ist eine wohl tuende Distanz zu der historischen Figur Mao Zedong, die es ermöglicht, die Lebensumstände des Staatsgründers der Volksrepublik China zu objektivieren und seine intrinsische Motivation freizulegen. Zunächst frei von Urteilen werden die Schlüsselerlebnisse des jungen Mao in der Provinz geschildert, die langsame , aber stetige Entwicklung seiner Denkweise und die Herausbildung einer Persönlichkeit, die selten im Geschäft der Weltpolitik war und geblieben ist. Eine Mischung aus Poet, denn Mao verfasste von seiner Jugend bis zum Tod qualitativ hoch stehende Lyrik, und Machtpolitiker, der bei aller Empathie und Sensibilität nicht mit der Wimper zuckte, wenn es darum ging, das durchzusetzen, was er als wichtig erachtete. So entsteht das Bild eines Regisseurs der Weltgeschichte, zum Lieben und Fürchten zugleich.

Rote Sonne, Roter Tiger ist aber auch eine sehr gekonnt gezeichnete Illustration des historischen Rahmens, in dem sich das Leben Mao Zedongs innerhalb Chinas abspielte. Die ungeheuren Katastrophen, die vor Mao das Land prägten, die Demütigungen, die die Nation erleiden musste, der Befreiungsschlag der erfolgreichen Erhebung und die hausgemachten Katastrophen, die folgen sollten, aber das Land dennoch weiter brachten. Denn ohne dass die Autorin den belehrenden Zeigefinger benötigt, gelingt es ihr, die Dialektik zwischen der Kulturrevolution, ihren Verwüstungen, ihrer Niederschlagung, der erneuten Bürokratisierung und dem heutigen zivilgesellschaftlichen Widerstand zu verdeutlichen. Trotz der furchtbaren Dimension der Kulturrevolution hat sie den Keim gesetzt, der es einem Volk, dass unter einer tausendjährigen Autokratie gelitten hat, ermöglicht zu rebellieren.

Das Bestechende an diesem Buch über Mao Zedong ist nicht nur der Mangel an Rechthaberei und Verurteilung, sondern auch die angebrachte historische Relativität einer möglichen Bilanz. Nahvollziehbar beschreibt die Autorin die Lebensspanne Maos im europäischen Vergleich mit den Ereignissen aus 400 Jahren. Da relativieren sich auch die Dimensionen. Und es bleibt der Leserschaft überlassen, zu welchen Urteilen sie sich durchringt. Eine atemberaubende Perspektive im Zeitalter wachsender Belehrung!