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Der Grat zwischen Individuum und Kollektiv

Das Konzept des alles überragenden Individuums in einer sozial dennoch stark konturierten Gesellschaft scheint sich auf seinen Endpunkt hinzubewegen. Und wie üblich, wenn eine Ära auf die finalen Akkorde zustrebt, leben die alten Tugenden noch einmal in voller Blüte auf. Mehr noch, die letzten Bilder sind an Bizarre nicht zu überbieten. Was da in letaler Schönheit strahlt, ist der Aberwitz der früheren Existenz. Noch einmal steht das Ich, ohne das es keine Gesellschaft gäbe, in der Aura der eigenen, längst nicht mehr wirksamen Bedeutung. Denn die Ausblendung des sozialen Kontextes hat das Ende bewirkt, die Abkoppelung des individuellen Schicksals von der Gesellschaft war nichts anderes als eine Illusion, gespeist von der Hypostasie der Privilegierten.

Ihre Selbstbezogenheit, ihre Bedürftigkeit nach Sinn, ihre Eindimensionalität, hat den Abweg auf die unumschränkte Herrschaft der Individuums frei gemacht. Für die große Mehrheit, die ihre Existenz nur durch erfolgreiche Arrangements in der Gemeinschaft sichern kann, war das immer eine Illusion, geendet hat es für sie in einer Ideologie, die abgelenkt hat von der wahren Bestimmung.

Die nämlich liegt, abseits des Besitzes und Konsums, in der erfolgreichen Assoziation mit den anderen, die als Individuum auf verbriefte Rechte pochen, die jedoch den existenziellen Sinn in dem sehen, was die Gattung ausmacht: in der erfolgreichen Kombination der vielen individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die soziale Organisation ist es, die den Homo sapiens über andere Gattungen stellt, sonst nichts. Aus der sozialen Organisation entsteht korporierte Arbeit wie Sprache, Brot wie Kultur.

Wie Abseitig ist es da zu glauben, der Individualismus sei das höchste aller Ziele? Wie dünn ist das Futter, in dem die Reflexion der eigenen Bedürftigkeit im lebenslangen Zentrum steht? Die Ideologie, die das durchaus nachvollziehbare Recht der einzelnen Persönlichkeit bis in die dekadente Übersteigerung getrieben hat, ist der Wirtschaftsliberalismus, der die Gesellschaften, die ihr gefolgt sind, in einen Zustand manövriert haben in dem sie sich jetzt befinden: den der Implosion!

Als eine böse Ahnung für alle, die den sozialen Isolationismus gepriesen haben, erscheint nun der chinesische Kollektivismus am mentalen Horizont. Seine Macht wächst, und es scheint, als sei er eine Alternative zum Individualismus der westlichen bürgerlichen Revolution. Der Respekt vor den Leistungen dieser Form des Kollektivismus ist angebracht, der Kotau vor dem autoritären Modell jedoch nicht.

Hat der überhitzte und übersteigerte Individualismus eine unerträgliche semantische Leere produziert, die das Seelenleben zerstört, so ist der Kollektivismus ohne Freiheit die physische Hölle auf Erden. Es ist nicht ratsam, die Vorteile unterschiedlicher Gefängnisse gegeneinander abzuwägen. Das führt zu keiner guten Lösung und zu keinem Ziel, das erstrebenswert wäre.

Vielmehr ist es an der Zeit, das soziale Modell, das einen Ausweg aus Zerstörung und Bevormundung bieten soll, gut durchdacht zu beschreiben und in einem emanzipatorischen Diskurs zu verbessern. Die Konstanten, die sich ergeben, sind klar: Das Individuum hat unverbrüchliche Rechte, doch das Kollektiv entscheidet, wohin die Gesellschaft treibt. Es muss um die Frage des Besitzes genauso gehen wie um die Rechte auf Assoziation. Kurz, es geht um den Grat zwischen Individuum und Kollektiv. Nur eine neue Konzeption wird eine Zukunft haben. Der Individualismus im westlichen Kapitalismus stürzt bereits von der Klippe, das autoritär geführte Kollektiv des Ostens hat noch etwas Zeit vor dem großen Crash, aber in der Ära der Beschleunigung sollte nicht geglaubt werden, dass sein Siegeszug noch lange ohne Störung währt.

Rechtstaatlichkeit und Empathie

Das Sommerloch ist nicht nur eine langweilige Veranstaltung. Bei genauem Hinsehen fördert es vieles zu Tage. Gerade weil sich die Medien krampfhaft nach Themen umsehen, die die Verlangsamung des gesellschaftlichen Lebens wieder beschleunigen können, greifen sie in die Dramaturgenkiste und präsentieren Angebote zur Erhitzung der Gemüter. Bei Katastrophen wie Brückeneinstürzen, Kindesmisshandlungen, Missernten, Drogenexzessen von Personen des öffentlichen Lebens u.a. wird sehr deutlich, worum es neben der sommerlichen Öde geht. Wie zwei Gladiatoren in der Arena stehen sich dort Betrachtungsweisen gegenüber, die, verabsolutiert, die Katastrophe bedeuteten, die in ihrem gelungenen Zusammenspiel vieles lösen würden, aber im Kampf gegeneinander immer Schäden verursachen, die gesellschaftliches Gewicht haben.

Sind die Kostüme erst einmal entrissen, sehen wir, dass sich in besagter medialer Arena ziemlich unversöhnlich die Rechtsstaatlichkeit hier und die vermeintliche Empathie dort gegenüberstehen. Auf der einen Seite versuchen die staatlichen Institutionen, nach Recht und Gesetz zu handeln, auf der anderen Seite moniert eine Fraktion genau das als unempathisch, als gleichmacherisch, als gefühllos. Die Forderung, die sich daraus ableitet, ist in der Regel jedoch eine andere: Es ist ein einziges Plädoyer für so genannten Volkszorn und Selbstjustiz.

Browst man durch die Gazetten, übrigens bis hin zu jenen, die das noch rudimentär vorhandene Bildungsbürgertum für sich reklamiert, wird sehr schnell deutlich, was da so alles gefordert wird: da geht es um Vorverurteilung, da geht es um kurzen Prozess, da geht es um emotional bemessenes Strafmaß, da geht es um Sündenböcke und da geht es um die Skandalisierung rechtmäßigen Vorgehens. In Anbetracht der Dimension, in der das stattfindet, ist es nicht übertrieben davon zu sprechen, dass das Prinzip der Rechtstaatlichkeit seine letzten Gefechte führt.

Denn was die mediale Horde aufgrund der temporär geringer werdenden Sensationsniederschläge vom digitalen Himmel herunterpeitschen lässt, das lebt die Politik in dieser Republik in Slow Motion, so, dass es jeder genau sehen kann, mit dem moralisierenden Anspruch mit jedem Atemzug vor. Da werden Sanktionen verhängt aufgrund von angenommenen Taten. Da werden fremde Länder unter Bruch internationalen Rechts wegen mutmaßlicher Vergehen bombardiert und da werden diplomatische Sanktionen prophylaktisch verhängt. Jedem Richter, der in einer Atmosphäre der Rechtstaatlichkeit sozialisiert ist, muss sich der Magen umdrehen, wenn er sich das, was die offizielle Regierungspolitik ist, unter den Prinzipien zu Gemüte führt, die von derselben als das Plus der eigenen Wertegemeinschaft angeführt wird.

Recht ist kein Wert an sich. Recht ist die Zusammenfassung der normativ als vernünftig erachteten Verhältnisse, in denen sich die Glieder einer Gesellschaft bewegen sollen und wollen, um einen für alle Seiten gedeihlichen Ertrag erwirtschaften zu können. Das aus der bürgerlichen Revolution entwickelte Recht hat genau diesen Gedanken zur Grundlage. Und  dieser Gedanke macht den Charme aus, den dieses Recht immer noch versprüht.

Und dieser Charme ist dahin, wenn die Werbevertreter dieser Rechtsauffassung intern wie weltweit dazu aufrufen, den individuellen Raub und den Ruin der Vertragspartner zu betreiben. Man kann es auch einfach ausdrücken: Sie rufen „Lobet den Herrn!“ und meucheln den bedürftigen Bruder.

Und es beginnt alles so scheinbar harmlos bei einzelnen Aufregerthemen im Sommerloch. Rechtstaatlichkeit versus vermeintlicher Empathie. Man sollte sich sehr gut überlegen, ob man in das blutrünstige Gebelle gegen die rechtstaatlichen Institutionen mit einfällt. Eh man sich versieht, trabt man mit dem faschistischen Mob durch die gute Stube.

Slaughterhouse Number Five

Er inhaliert Quoten wie psychedelische Drogen. Der Moderator des leichten und beschwingten, manchmal auch einfach geschmacklosen Politjournalismus in Form der paratherapeutischen Talkrunde. Der Mann, der die Oma schon lägst verkauft hatte, als diese sich noch in Freiheit wähnte, der auf Betriebsversammlungen von Trickbetrügern als Zugpferd auftrat und Goldene Berge versprach und damit zum Ruin vieler beitrug, der machte natürlich im deutschen TV weiter Karriere. Er sieht aus wie ein Oberschüler, auf dem Hof einer solchen hätte man ihn ein Backpfeifengesicht genannt. Warum, so muss gefragt werden, reüssieren in diesem Land, das durchaus seine Reize hat, im Kulinarischen wie im Landschaftlichen, zuweilen sogar in Kunst und Poesie, warum mag die Masse solche Figuren. Sie operieren wie der manchmal zitierte Weltmann aus dem 17. Jahrhundert, dessen Strategie uns bis in unsere Tage so bekannt vorkommt: Was ist politisch sein, heißt es da, versteckt im Strauche liegen, fein zierlich führen um, und höflich dann betrügen.

Nicht, dass es falsch wäre, Menschen, die unterschiedliche Interessen und Meinungen vertreten, an einen Tisch bringen zu wollen. Da ist gut so, und der Konflikt ist die Mutter der Erkenntnis. Aber aus einer Situation, die von Anfang an geprägt wurde durch die Diffamierung aller möglichen Gruppen, von Flüchtlingen bis zu hiesigen Politikern, und zwar durch eine Partei, die mit allen Techniken des Populismus arbeitet, in einen Rahmen zusetzen, in dem der Eindruck entstehen konnte, dort handele es sich um schlecht Verstandene und ungerecht Behandelte, das ist ein schweres Vergehen. Und wie von selbst begann am Tag Eins nach der sonntäglichen Diskussion ein mediales Treiben, das die Täter zu Opfern machte.

Das war nicht das alleinige Verdienst des anfänglich erwähnten Quotenjunkies, sondern zudem einer Koinzidenz zu verdanken, die tatsächlich unheimlich anmutet. Denn die Polizeibehörden im fernen Dresden verbaten jede Art von Demonstration am kommenden Montag, weil eine Terrorwarnung vorlag. Genau genommen gegen eine Person, die man hätte schützen und separieren können oder die sich hätte, bei nur einem Funken Verantwortungsgefühl, selber fernhalten können. Wahrscheinlich war das überreagiert, vielleicht war es intentional überreagiert. Denn plötzlich war es demokratische Tugend, für die Bedrohung von Toleranz und Freizügigkeit Mitleid zu empfinden. Und die Kanzlerin gab gar die Parole aus, wenn Sachsen darum bäte, dann könne auch der Bund Demonstrationen solcher Art sichern. Da kommen plötzlich kuriose Bilder auf, die eher an Vonneguts Slaughterhouse Number Five als an das Dresden unserer Tage erinnern. Vorne ein Leo, der vor einem Demonstrationszug mit schwenkender Kanone rollte, um Pegida gegen Bomben aus dem Morgenland zu schützen. Das ist weder Wildwest noch Wildost, das scheint eine Realität in der Vorstellungswelt der bundesrepublikanischen Staatsidee unserer Zeit zu werden.

Innerhalb einer Woche bekam das Publikum zwei Szenarien vor Augen geführt, die schlimmer nicht hätten voneinander differieren können. In Paris der Demonstrationszug einer Bevölkerung, die mit den Idealen einer bürgerlichen Revolution aufgewachsen ist. Bei aller Apathie, bei aller Reformschwäche, bei der dramatischen Differenz von Selbst- und Fremdwahrnehmung, es war eine machtvolle Demonstration darüber, wie es aussehen müsste, wenn eine Demokratie bedroht wird. Und das Pendant: Ein Deutschland, das sich mit nachhaltiger Logikschwäche dafür entscheidet, Ursache und Wirkung der Krise systematisch zu vertauschen und zu Szenarien tendiert, die einfach nicht das Monströse der Geschichte abzustreifen in der Lage sind. Heinrich Heine, der Düsseldorfer Jude, hatte es schon immer gewusst und den Satz geschrieben, der einfach nichts an seiner fatalen Wirkung eingebüßt hat: Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht.