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Der heiße Tanz der kollektiven Charaktere

Zugegeben. Vor allem das taktische Konzept der deutschen Mannschaft gegen Algerien hat eine gewisse Traumatisierung ausgelöst. Die auch auf dieser Blog-Seite dokumentierte Expertise hat dieses Phänomen eher noch beflügelt. Genauso wie die Tatsache, dass der Bundestrainer an seiner Lesart des zu spielenden Fußballs festhalten will. Das ist die eine, weniger amüsante Seite des Turniers, und die Fragen, die sich daraus ergeben, sollten uns die Freude am Rest der Veranstaltung nicht nehmen. Ganz im Gegenteil. Auch der gestrige Abend und die folgende Nacht lieferten beherzte Duelle, gespickt mit latenten und offenen Botschaften und voller Leidenschaft und Herzblut.

Und so, als gäbe es tatsächlich ein Regiebuch für die Mythendeutung während dieses Turniers, waren die Parts so klar umrissen, als seien sie nicht Ergebnis der Realität, sondern etwas Artifizielles. In den letzten beiden Begegnungen des Achtelfinales trafen Argentinien und die Schweiz sowie Belgien und die USA aufeinander und natürlich siegten Argentinien und Belgien. Vermeintlich natürlich und außergewöhnlich knapp, weil in beiden Partien gleichwertige Gegner aufeinandertrafen, die alles in die Waagschale warfen. Alle blieben dem Trend der WM treu, mit Passion zu spielen. Und so wie sie es taten spielten sie tatsächlich, weil es bei einer Niederlage kein Morgen mehr gibt.

Dabei präsentierte sich Argentinien als ein Teil Amerikas, dessen Charakter wohl mit am stärksten von den europäischen Immigranten geprägt wurde, vor allem von denen, die im Turnier das alte Europa repräsentierten. Sie kombinieren das Feuer ihres Kontinents mit den Fertigkeiten der Immigranten, von der Mentalität schwankten sie zwischen beiden Polen, was sie verletzlich macht und nicht umsonst auch im richtigen Leben dazu führt, dass Buenos Aires zur Weltmetropole der psychoanalytischen Heilung avancierte. Die Schweiz dagegen agierte wie eines der nach ihr benannten Uhrwerke. Präzise, unbeirrbar, schlagfest. Das Pendant zu dieser funktionalen Kühle lieferten die Immigranten aus den warmen, merkantilen Zonen dieser Welt und das Team vermittelte das Bild einer Schweiz, um dessen Konturen noch heftig gestritten wird. Dem Deutschen aus dem Markgräflerland gelang es, aus einer skandalisierten Ethno-Mischung eine festgefügte Meritokratie zu schmieden, der es zum Schluss an Glück, aber nicht an Zukunft fehlte.

Und dann kamen Belgien und die USA! Marc Wilmots, das einstige Schalker Kampfschwein, ist dabei, dem neuen Belgien, das seit eh und je zerrissen und immer wieder ohne Regierung ist, eine neue Seele einzuhauchen. Wallonen wie Flamen harmonieren zusammen mit den Immigranten aus den ehemaligen Kolonien und auch in diesem Team zeigte sich, dass die Grundannahme, Diversität als Chance und Potenzial zu sehen mehr verspricht als deren Problematisierung. Vielleicht deutete das belgische Team an diesem Abend mehr an, als nur Fußball. Vielleicht ist in diesem oft belächelten Land mehr an europäischer Perspektive vorhanden als so mancher Monolith glauben will. Und dann noch die USA! Wieder ein Deutscher, dem es vergönnt war, seine Begeisterung einem Team zu vermitteln, zu dessen nationalen Grundqualitäten der Enthusiasmus, die Juvenilität und der Spirit gehören, gemäß einer Zusammensetzung aus unterschiedlichen Immigrationswellen zu aktivieren und auf den Platz zu bringen. Sie gingen unter, knapp, mit fliegenden Fahnen, aber ungebrochen, wie es sich für Nationen, die vom Glauben an ihre Zukunft leben, eben gehört.

Es waren wunderbare Fußballspiele, die den heißen Tanz der kollektiven Charaktere zum Ausdruck brachten, die unterhaltsam und spannend waren und deren Akteure Sympathie ausstrahlten. Da spielte kaum noch eine Rolle, wer unterlag oder gewann. Das war großer Fußball, dem verdient die Nacht gehörte.

miles christianus

Nun hat sie ihn, die katholische Weltkirche! Der neue Papst, der als Erzbischof von Buenos Aires in einer bürgerlichen Wohnung statt in einer klerikalen Residenz wohnte, dessen Vater Eisenbahner war und der mit fünf Geschwistern aufwuchs. Er, der ganz nach alter Tradition aus der katholischen Armut dem Herrn geopfert wurde und das große Bildungsglück genoss, Priester werden zu dürfen. Jorge Mario Bergoglio, der sich künftig Franziskus I. nennen wird, um seine Bestimmung für die Linderung der Armut zu unterstreichen, hat sich als Schattenkandidat gegen die Big Shots im papistischen Wahlkarussell durchgesetzt. Weder der Kandidat aus Sao Paulo noch sein ebenso favorisiertes Pendant aus Mailand machten das Rennen. Wie so oft blockierten sich wohl die beiden gesetzten Protagonisten und Kardinal Bergoglio zog an ihnen vorbei. Fakt ist, dass zum ersten Mal ein Papst von dem Kontinent kommt, auf dem die meisten Katholiken leben. Die europäische Dominanz ist damit ebenso gebrochen wie das Tabu der lebenslangen Amtsführung durch seinen Vorgänger.

Obwohl gleich zwei Tabubrüche die Vermutung ermutigen würden, von einer Zeitenwende in der katholischen Kirche zu sprechen, sollten selbst die Gläubigsten nicht zu emphatisch werden. Auch wenn das Weltchristentum mit 2,2 Milliarden Menschen dem der Muslime mit nunmehr 1,6 Milliarden Gläubigen quantitativ überlegen ist, hat aus Sicht der katholischen Kirche das eigene Haus mit gegenwärtig 1,2 Milliarden Anhängern den schwersten Stand. Da konnte es sich bestimmte Defizite im Management nicht mehr leisten. Benedikt XVI. galt seit einigen Jahren als physisch nicht mehr auf der Höhe, seine Altersschwäche ließ es nicht zu, mit Auswüchsen des papistischen Machtapparates, so wie sie gerade in den letzten 12 Monaten durch die Weltpresse gingen, aufzuräumen. Ein hohes Maß an Eigendynamik hatte sich aus der römisch-papistischen Beamtenelite entwickelt. Das reichte von bestimmten Geschäftsfeldern über Beteiligungen bis hin zu persönlichem Fehlverhalten. Eine Amtskirche, die ihrerseits global im scharfen Wind der Konkurrenz steht, konnte sich diese Zustände nicht mehr leisten.

Die erstmalige Wahl eines Jesuiten, eines miles christianianus, ist unter diesem Blickwinkel keine Überraschung. Auch wenn die Kommentatoren und so genannten Experten der katholischen Kirche nun betonen, es handelesich bei Jorge Mario Bergoglio um einen Latino und Prister der Armen, so wird der Kampf für soziale Gerechtigkeit nicht der Auftrag sein, den ihm das Konsortium der herrschenden Kardinäle erteilt hat. Vielmehr wird der neue Papst als Manager des kirchlichen Apparates eine Sanierungsprojekt nach jesuitischer Art ins Leben rufen, dessen Ziel es sein wird, dekadente Würdenträger in die klösterliche Besinnung zu treiben und die Institution nach dem Konzept der Soldaten Gottes wieder schlagkräftiger zu gestalten.

Wie so oft auf den Feldern der weltlichen Politik vorexerziert, auf denen man programmatische Kriegsgegner benötigt, um die Notwendigkeit des Krieges dem Volk zu kommunizieren und Vertreter der sozialen Gerechtigkeit das wiederholt mit schmerzhaften Sparprogrammen tun müssen, genau so wird der Priester der Armen den Armen zu verkaufen haben, den Gürtel angesichts des Kampfes um globale Vorherrschaft enger schnallen zu müssen. Das wird ihm nur gelingen, wenn er den papistischen Apparat kriegsfähig macht und seine Glaubwürdigkeit durch den Kampf gegen die Ausschweifung wieder zurückgewinnt. Für diese Aufgabe ist Kardinal Jorge Mario Bergoglio nahezu ideal. Das Herz der Armen dagegen wird weiter auf den wärmenden Strahl der Sonne warten müssen.