Immer öfter beginnen unsere Mitmenschen, an ihrem Verstand zu zweifeln. Vermögen sie auch lange, der Versuchung der Selbstbezichtigung von schwerem mentalen Versagen zu widerstehen, so sind sie dann doch irgendwann an dem Punkt der Kapitulation. Bei soviel Irrsinn, mit dem sie konfrontiert sind, dominiert dann irgendwann die noch erlebte gute Sozialisation, die sie zu dem Schluss führt, dass so verworren Politik und Gesellschaft gar nicht sein können. Es muss also, so der Schluss, an ihnen selbst liegen. Dass sie dabei irren, können sie in ihrem jetzigen Zustand nicht mehr glauben. Und was machen sie? Diejenigen, die keine Vorurteile gegen die Möglichkeiten der Psychoanalyse haben, nehmen bei den entsprechenden Fachleuten Hilfe in Anspruch.
Letztere sind dabei ebenfalls in einem verzweifelten Zustand. Ursache sind die gleichen Indikatoren, die zur Verschlechterung des Zustandes ihrer Patienten führen. Auch sie sind Glieder dieser Gesellschaft und den gleichen Einflüssen ausgesetzt wie das Klientel. Die Redlichen unter ihnen bekennen dementsprechend, dass sie sich eigentlich direkt neben ihre Patienten auf die Couch legen müssten. Doch wer, bitte schön, kann dann noch therapieren? Da ist kluger Rat teuer.
Auch wenn sie das nicht personalisieren, denn die meisten von ihnen halten sich an den Ethos ihres Berufes, was mehr und mehr zu einer Rarität verkommt, manchmal berichten sie dann von den Wahrnehmungen und Halluzinationen ihrer Patienten, die, ehrlich gesagt, mir nicht unbekannt vorkommen. Da kommen Leute, die von ihrem praktischen Arzt eine Überweisung bekommen haben, weil sie dort bei einer Routineuntersuchung davon erzählten, dass sie für ein striktes Böllerverbot in der Ukraine und die sofortige Lieferung von schweren Waffen nach Berlin Neukölln seien.
Einmal dabei, beginnt die ganze Litanei. Andere der Geschickten wiederum beginnen an zu schreien, wenn sie hören, dass weltweit die Kriegsausgaben gestiegen sind wie noch nie, der Nachbar sie aber davon zu überzeugen sucht, aus ökologischen Gründen die Trinkmilch durch Haferdrink zu ersetzen. Oder ein anderer, gegen den bereits ein Strafverfahren läuft, wollte eine städtische Großbaustelle in die Luft sprengen, weil er gelesen hatte, dass die Versiegelung der Städte zu der unerträglichen Hitze in den Sommermonaten beitrage. Und wiederum ein anderer wurde von den Behörden geschickt, weil er pausenlos mit schweren Sicherheitsschuhen über parkende Elektroautos läuft, um auf ihren verschwiegenen ökologischen Fußabdruck aufmerksam zu machen.
Die Sachbeschädigung ist immens, so die Therapeuten, aber, so ihre Frage, haben wir es dabei denn mit einer kognitiven Störung zu tun? Sicherlich nicht, so ihre Antwort. Vielmehr beginnen sie, wenn man sich die Zeit nimmt, mit einer ganz anderen Diagnose, die sich nicht auf die vermeintlichen Patienten, sondern auf die Gesellschaft und deren Diskurs bezieht.
So, wie es ihnen scheint, ist die unmittelbare Erfahrung der meisten Menschen von dem, was als politisches Handeln propagiert wird, völlig entkoppelt. Das scheint ihnen nicht als Phänomen einer Pathologisierung der Politik, sondern als der Zusammenbruch der eigenen Logik. Das Dilemma, so die Psychoanalytiker, ist in dem Umstand zu suchen, dass beides zutrifft. Weil die Politik, so ihre Ausführung, sich in Wahnwelten bewegt, die niemand mehr nachvollziehen kann, ist sie auch nicht mehr nach den tradierten Vorstellungen durch die Gesellschaft vorstellbar. Das führe notwendigerweise zu Selbstzweifeln. Diese seien gänzlich unbegründet. Die Vorstellung zum Beispiel, man müsse Böller in die Ukraine und schwere Waffen nach Neukölln liefern, sei doch eine vernünftige Sache.
Ich gestehe, jetzt konnte auch ich nicht mehr folgen. Glücklicherweise wohnen in meinem Haus zwei fähige Psychoanalytiker. Ich werde bei ihnen mal klingeln.
