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Das Massaker von Belo Horizonte

Es ist nach wie vor ein Spiel. Bei allem, was die letzte Nacht an Sprachlosigkeit bei einem Millionenpublikum gezeitigt hat, sollte das nicht aus den Augen geraten. Das Charakteristikum eines Spieles besteht unter anderem darin, dass das Unvorhergesehene zuweilen einen größeren Stellenwert einnimmt als vormals rational angenommen. Vor diesem merkwürdigen und atemberaubenden Spiel zwischen Brasilien und Deutschland konnte davon ausgegangen werden, dass alles möglich sein würde, sowohl ein Sieg Brasiliens als auch ein Weiterkommen der Deutschen. Was dann passierte, hatte sehr viel mit Psychologie und ihrer manchmal ungeheuren Eigendynamik zu tun. Das, was man vielleicht als Massaker von Belo Horizonte bezeichnen muss, war eine historisch zu nennende Dokumentation dieser Eigendynamik.

Das deutsche Team unter Trainer Löw wartete mit dem auf, wofür die deutsche Mentalität in der Regel steht. Man kam, nach dem Sieg über Frankreich, mit einem analogen Konzept und einer identischen Mannschaft nach Belo Horizonte und besann sich auf die eigenen Kernkompetenzen. Taktisch gab es keine Überraschungen und die Devise, die im Vorfeld ausgegeben wurde, hieß immer wieder Konzentration und Fokussierung. Man traf dabei auf einen seit Anfang des Turniers emotional aufgeladenen Gegner Brasilien, der den bisherigen Weg ins Halbfinale ausschließlich aus der Ressource des Engagements, des Herzbluts und der Symbolik gespeist hatte. Dieses Arrangement wurde noch gesteigert durch das Ausscheiden des Superstars Neymar, dessen Verlust abermals mit einem neuen Kontingent aus dem Gefühlsleben gespeist werden sollte.

Ab der ersten Sekunde wurde deutlich, dass Brasilien mit einem emotionalen Sturmlauf den Gegner überrollen wollte. Die ersten fünf Minuten lieferten die Blaupause der brasilianischen Taktik, die keine war. Als dieses Mittel dahin gehend nicht zu greifen schien, als dass die deutschen Spieler nicht die Nerven verloren, sondern diese wie eine Präzisionsmaschine ihre eingespielten Routinen etablieren konnten, wurde klar, dass Brasiliens Konzept nicht aufgehen konnte. Der psychische Druck, der auf den brasilianischen Spielern mehr denn je lastete, steigerte sich ins Unermessliche und führte dazu, dass der Abwehr Fehler unterliefen, die diesem Mannschaftsteil der Brasilianer unter normalen Umständen nie unterlaufen würden. Nach dem ersten Tor der Deutschen geriet die Equipe der aufstrebenden 200 Millionen Nation ins Wanken, nach dem zweiten Treffer der Deutschen implodierte sie. Was danach geschah ist bereits wenige Stunden nach dem Triumph der Deutschen und dem Debakel der Brasilianer WM-Geschichte.

Das 7:1 des deutschen Teams vermittelt das Bild einer lockeren Jagdpartie, die ohne Wollen der Beteiligten zum Massaker geriet. Nach dem ersten Schuss fielen gleich mehrere Vögel vom Himmel und die ungläubigen Jäger probierten es wieder und wieder, um sich die Augen zu reiben ob der unvorhergesehenen reichen und leichten Beute. Ohne bösen Willen kehrte die Jagdgesellschaft mit mit üppiger Beute beladen ins Quartier zurück und hinterließ einen emotionalen Flurschaden auf brasilianischer Seite, der sich zu einem nationalen Trauma ausweiten wird. Eine große Fußballnationen liegt in Tränen und es ist sehr wahrscheinlich, dass die ausgebliebene symbolische Hoffnung, die ein WM-Titel mit sich gebracht hätte, zu einem knarzigen, an Verwerfungen reichen Alltag führen wird, der für die weitere politische Entwicklung des Landes eine große Hypothek darstellen wird.

Bundestrainer Löw, der nicht nur die richtige Taktik gewählt hatte, fand in diesem Kontext gar goldene Worte. Er sprach davon, dass in einer solchen Situation auch Demut angebracht sei. Das ist weise, da es vor Hochmut bewahrt und vor Selbstüberschätzung warnt. Am Morgen danach geht in Deutschland das Leben weiter, bereichert mit einer prominenten Anekdote. Brasilien hingegen liegt vorerst am Boden. Ein Spiel, das ins Leben wirkt.

Große Oper

Bereits das Eröffnungsritual zeigte die Brisanz. Obwohl für das Abspielen der Nationalhymnen nur neunzig Sekunden vorgesehen sind und somit nur eine Strophe Platz findet, sang der chilenische Anhang die Hymne ohne Musik und gegen einen gellendes Pfeifkonzert der brasilianischen Fans zu ende. Das gleiche passierte danach umgekehrt und aus den Mienen aller Beteiligten war zu lesen, dass es sich bei dem bevorstehenden Spiel um mehr als nur um ein sportliches Ereignis handelte. Was folgte, war eine Werbung für den Fußball, soweit man mit ihm eine Form von Passion verbindet, die sich in Inspiration, gegenseitiger Unterstützung und Hingabe ausdrückt.

Nein, und das flüsterten die Souffleure der deutschen Fernsehanstalten auch schnell und beflissen in die Mikrophone, das höchste technische und taktische Niveau war dieses erste Spiel des Achtelfinales nicht. Richtig in diesem Zusammenhang anerkanntermaßen der Hinweis, dass in dem gegebenen Fall, d.h. dem Aufeinandertreffen des großen Brasilien auf das kleine Chile keine Kontrolle möglich ist und Traineranweisungen nur begrenzte Wirkung haben. Die Dynamik bekommt das Spiel aus der eigenen, überdimensionierten Motivation der Spieler selbst und dem grollenden, peitschenden, mal von Übermut, mal von Verzweiflung getragenen Feedback der Ränge.

Großen Respekt verdienen die Akteure für die Fähigkeit, im Kessel von Belo Horizonte nicht die Kontrolle verloren zu haben und fair geblieben zu sein. Verlauf wie Ausgang des Spiels waren ein Drama und gewonnen zu haben hätten beide verdient, aber das sieht das Reglement bekanntlich nicht vor. Brasilien war glücklicher, Chile fehlte das berüchtigte Quantum daran. Was bleibt sind Bilder, die den ungeheuren Druck, die große Menschlichkeit und die Haltung der Akteure festgehalten haben: Ein aufrecht in der Tragewanne sitzender und vom Platz transportierter chilenischer Verteidiger, der nicht mehr laufen konnte, aber über sein Ausscheiden verzweifelt, ein schon vor dem Elfmeterschießen ergriffener Julio Ceasar, der Minuten später der Held des Tages war und ein nach einem dreist ausgeführten Elfmeter, der eine Schnoddrigkeit sondergleichen vermuten ließ, kurz darauf von Emotionen übermannten schluchzenden Neymar, der auf den Rasen sinkt wie ein von einem Dolch gemeuchelter Prinz. Das waren die Erlebnisse, für die die Weltmeisterschaft im Jahr 2014 steht, die im Zeichen des amerikanischen Kontinents zu finden sind, der andere Werte vertritt wie die immer wieder staunenden Europäer lernen müssen und der vom Temperament auf einem anderen Stern liegt.

Im zweiten Achtelfinalspiel kam eine, da wiederum amerikanische, nicht minder brisante Konfrontation zustande. Mit Kolumbien traf der Rising Star dieser WM auf die mit Hochprofis gespickte Elf aus Uruguay. Hier, und das sollten alle Beobachter aus dem professionellen Lager begreifen, wurde trotz der durchaus vorhandenen Emotionen in starkem Maße von der Taktik instruiert gespielt. Mit dem einstigen argentinischen Nationaltrainer Pekerman spielt Kolumbien ein kühl kalkuliertes Brett, das man kaum erkannt wird, wenn Akteure wie Zuniga mit brennender Spur über den Platz fegen. Und das neben einem James Rodriguez, der in seiner juvenilen Unbekümmertheit Tore schießt, als stammten sie aus einer Animationskonsole für schönes Spiel. Hier war früh klar, dass Jugend, gepaart mit kluger Taktik und technischer Brillanz einer alternden Mannschaft, deren Aura aus vergangenem Ruhm, einem Handicap mit dem von der FIFA hingerichteten Suarez und Kampfkraft keine Chance gab. Dass Brasilien nun auf Kolumbien trifft, verspricht ein weiteres Erlebnis zu werden, einer Werbung für das Metier, die nahezu exklusiv auf das Konto Amerikas geht.