Jetzt haben wir die Quittung. Rassismus und Faschismus sind mitten unter uns. Das Schlimme dabei ist, dass die Phänomene nicht mehr politisch lokalisiert werden können. Aus nahezu jedem politischen Lager kommen Sätze, die über Jahrzehnte längst nicht mehr als salonfähig galten. Heute sind sie es. Und zwar in einem Maße, dass es nicht mehr zu ertragen ist. Das ist in vielen Ländern Europas so, in Deutschland ist es eine ausgewachsene Katastrophe. Das Land, das aus seiner suizidalen, mörderischen und neurotischen Geschichte gelernt zu haben schien, ist genauso wenig immun gegen die zivilisatorische Pest wie woanders. Mitunter sind die Symptome noch schlimmer.
Woher stammt das kontinuierlich Barbarische in diesem Land? Es existieren Erklärungsansätze, die alle einige Gramm Wahrheit erhalten, historische, psychologische, soziologische, politische und sogar ökonomische. Und alle liefern wertvolle Erkenntnisse. Aber dennoch! Sind sie mächtig genug, um die Inkompetenz als Nation in einer zivilisierten Welt zu erklären? Oder ist doch alles auf den Ur-Mythos der Deutschen zurückzuführen? Auf den meuchlerischen Mord an dem einzigen positiven Helden, den das Land jemals kannte?
Siegfried, der den Rhein herunter fuhr, um es bis nach Island zu schaffen, die Quelle der nordischen Erkenntnis, um nach seiner erfolgreichen Rückkehr irgendwann in der Nähe der heutigen Kläranlage der BASF von dem Verräter Hagen dahingemetzelt zu werden und einen eines Helden unwürdigen Tod zu sterben. Ist dieser Siegfried und sein unrühmliches Ende die Hypothek, die dazu geführt hat, an Erlöser zu glauben, obwohl bekannt ist, dass sie kläglich scheitern werden? Geht es nur um den Rausch im Flow, der mit der tiefen Depression nach dem Sturz bezahlt wird? Oder ist das auch nur eine Erklärung wie vieles andere, das diesem Land aufgrund seiner zahlreichen mächtigen Ränder attestiert, zwar das Zeug zu genialen Gedanken zu haben, aber keinerlei Kompetenz in Sachen Staatsführung und Demokratie?
Von welcher Perspektive auch betrachtet, der öffentliche Zugang zum Giftschrank des zivilisatorischen Untergangs war immer zugänglich, und daran hat sich nichts geändert. Und vielleicht ist es an der Zeit, die deutsche Binnensicht einfach aufzulösen und nach anderen kulturellen wie staatlichen Modulen zu suchen, die die ätzende Abhängigkeit vom Totalitarismus auflöst. Was dieser Kulturraum benötigt, ist vieles. Auf jeden Fall ein langes und zähes Training, um die Fähigkeit zu einem tatsächlichen und wahrhaftigen gesellschaftlichen Diskurs zu erlangen. Das kollektive Schweigen und die passive Betrachtung der aktiven Schreihälse haben zu dem Debakel geführt, in dem wir uns befinden. Es darf keine Angst geben vor dem Streit und den daraus resultierenden Wunden. Nur Ensembles, die es verstehen, sich zu streiten, erlangen die Fähigkeit, politisch zu überleben. Nur wenn der legendäre „Kleine Mann“ es lernt, dem eloquenten Rhetor der Verführung zu widersprechen, wird es in diesen Breitengraden zu Veränderungen kommen.
Gesellschaftliches Sein ist kein Schauspiel, das man betrachten kann, ohne daran teilzunehmen. Das ist die Lektion, die diese vermeintliche Nation nicht gelernt hat. Nur wer für das soziale Gebilde, in dem er sich bewegt, leidet oder bereits gelitten hat, lernt das Erreichte zu lieben. Aufgrund der Heimtücke, die uns der Hagen hinterlassen hat, ist es gekommen, dass uns andere das gaben, was wir brauchten, ohne dass wir es schätzten, oder das nahmen, was wir liebten, ohne wir es wussten. Ein Heraushalten ist keine Option. Es geht um Sein oder Nicht-Sein! Begreift das endlich!
