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Milan

Es gibt Menschen, die haben die eigentümliche Gabe, immer dann aufzutauchen, wenn es gar nicht in den Rhythmus passt. Dann stehen sie mit einem erwartungsvollen Lachen im Türrahmen und wundern sich jedes Mal von neuem, dass der so Überraschte gar nicht in einen Freudentaumel ausbricht. So einer war Milan nicht. Immer, wenn er kam, freuten sich alle, die ihn kannten. Aber wir wussten nie, wann er kommen würde. Wir wussten auch nie, wo er sich befand. Es war bekannt, dass er aus Jugoslawien kam, vermutlich Kroate, und dass er als Binnenschiffer unterwegs war. Also war er nur an Flüssen anzutreffen. Deshalb kannten wir ihn. Irgendwann war er in einer Szenekneipe erschienen, mit seinem Schlapphut, seinem verschmitzten Lächeln, seiner eigenartigen Syntax, seinen radikalen Sichtweisen und seinem bösen Witz. Alle kannten ihn nur unter dem Namen Milan.

Hatte man Glück, dann gewann er nach genauer, langer Beobachtung Vertrauen. Dann gehörte man zu einem kleinen Kreis, der wenigstens wusste, wo Milan gewesen war. Dann kamen Ansichtskarten, mal aus Straßbourg, mal aus Bremen, aus Antwerpen oder Marseille, auf denen nichts anderes zu lesen war als sein Name: Milan. Das war viel und, nachdem wir uns daran gewöhnt hatten, war es auch genug. Wir wussten, dass Milan lebte, dass er das machte, was er immer tat und dass wir damit rechnen durften, ihn irgendwann einmal wieder zu sehen.

Wenn er auf Visite war, dann ging da immer nach einem fest gefügten Schema vor sich: Es klingelte und Milan stand in der Tür. Wie immer, Schlapphut, unrasiert, immer etwas mit den Lippen zirpend und gleich mit Fragen aufwartend, die so gar nicht von einem Binnenschiffer erwartet wurden. „Was meinst du, glaubst du nicht auch, dass Richter, die das Urteil selbst vollstrecken müssten, ganz anders urteilen würden?“ Oder: „Fremdenfeindlich ist archetypisch, in jedem Menschen ist die Sau namens Angst“, oder „Schuld ist auch genetisch, da kommt ihr Deutschen nicht drumherum.“ Und Milan wollte immer gleich Antworten, noch bevor er sich gesetzt hatte und die erste Flasche Bier angeboten bekam. Dann wenn es ihm gelungen war, seine Gastgeber durch den diskursiven Wolf zu drehen, schrie er relativ unvermittelt, dass er Hunger habe. Dann ging es zumeist in Lokale, wo es große Mengen Fleisch und auch Schnaps gab. Milan liebte es, sich den Bauch voll zu schlagen und zu lachen, dennoch war er sehr schlank, was wohl von seiner harten Arbeit auf dem Schiff kam. Einmal zeigte er mir noch nachts seinen Arbeitsplatz, „Ich hause wie ein Schwein,“ und er hatte Recht.

Nie war Milan länger da als eine Nacht. Und immer, wenn der Abend zur Neige ging, schlich er sich zurück auf das Schiff. Am nächsten Morgen war er dann schon wieder Geschichte. Einen aus unserem Kreis hat er einmal mitgenommen zu sich nach Hause, nach Jugoslawien. Er hatte dort bei der Ernte geholfen, war morgens um Drei mit aufgestanden, hatte Russentee, d.h. heißen Slivovitz gegen die Kälte getrunken und fetten Speck dazu gegessen, bis in den Abend auf dem Feld gearbeitet und war dann ohnmächtig ins Bett gefallen. Milan machte das jedes Jahr, zur Erholung, wie er sagte.

Milans Besuche gingen über Jahrzehnte. Sie liefen immer nach demselben Muster ab. Er war anstrengend und inspirierend zugleich. Und es schien, als ginge es ihm mit uns auch so. Irgendwann, es war zur Zeit des letzten Balkankrieges, kam noch einmal eine Karte. Das war das letzte Lebenszeichen von ihm. Seitdem ist Milan nur noch eine Erinnerung.

Medialer Bellizismus

Zwar ist das Ende des II. Weltkrieges fast siebzig Jahre her, aber wohl kaum ein Volk hat ihn so in der mentalen Präsenz wie die Deutschen. So zumindest glaubten die meisten. Von innen wie außen aus betrachtet haben die Deutschen seit dem Desaster, das der Faschismus mit seinen kriegerischen Exzessen auf fremden Territorien und den terroristischen Orgien im eigenen Land begangen hatte, eine nahezu psycho-pathologische Beziehung zur Politik schlechthin. Das schlechte Gewissen wie die noch vorhandenen Traumata haben dafür gesorgt, dass sich in diesem Land eine Friedensbewegung herausgebildet hatte, die vor allem in den heißen Phasen des Kalten Krieges zum Ausdruck brachte, dass zumindest hier niemand eine durchschaubare und vordergründige Kriegstreiberei würde betreiben können. Kriegserfahrungen, Exil und diese psychische Disposition der Deutschen im Rücken führten auch zu der einzigartigen Friedensarchitektur eines Willy Brandt, der es verstand, Behutsamkeit in waffenklirrenden Zeiten zu kultivieren.

Es bedurfte gerade einmal acht Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, als ausgerechnet ein grüner Außenminister während der Bürgerkriege auf dem Balkan der deutschen Friedensbewegung den Todesstoß versetzte: Mithilfe von Marketingagenturen wurden vermeintliche und tatsächliche Kriegsverbrechen propagandistisch so aufbereitet, dass die Positionen der Nichteinmischung und Neutralität sowie der Weg von Verhandlungen und politischen Sanktionen durch das Momentum der moralischen Verpflichtung ersetzt wurde. Der Moralismus ersetzte die in Jahrzehnten wieder erworbene Politikfähigkeit in den internationalen Beziehungen und wurde der Schlüssel zu einer neuen Politik militärischer Präsenz.

Seit dem Balkankrieg ist die Bundeswehr wieder weltweit unterwegs und es ist bereits ein geflügeltes Wort, dass die deutsche Freiheit auch am Hindukusch verteidigt werden muss. Dass sich eine ökonomische und damit auch politische Macht wie die Bundesrepublik nicht aus den Wirrungen und Kalamitäten der Weltpolitik heraushalten kann, wie sie das lange unter dem Schutzschild der USA durfte, ist die eine Seite der Medaille. Die andere besteht aber wohl in der Frage, wie die Grundlagen für eine bellizistische Intervention politisch definiert werden. Das ist bis heute nicht der Fall und somit haben wir es mit einem Roulette zu tun. Um genauer zu sein: Dem Anlass entsprechend mit einem russischen Roulette.

Die Bundesregierung ist gut beraten, ihre gegenwärtigen Aktivitäten eher im Verborgenen vonstatten gehen zu lassen, denn eine deeskalierende Strategie sei ihr unterstellt. Was in öffentlich rechtlichen Medien dagegen gegenwärtig geschieht ist eine Form der bellizistischen Mobilmachung, die in der Geschichte dieses Landes seit den Nazis nicht mehr stattgefunden hat. Die – und das ist die Kritik an der Friedensbewegung wie an der ökologisch durchtränkten Demokratietheorie – moralistische Begründung von Politik hat dazu beigetragen, die alten Aggressionspotenziale erneut zu mobilisieren. Für das Gute holt der Deutsche die Sense heraus, heißt es, da ist er der berüchtigte Meister aus Deutschland. Nur stelle man sich da bloß keinen Sensenmann vor oder eine Schlägertype in Nazi-Uniform. Heut erschienen junge Frauen im besten Alter in ansprechender Garderobe und propagieren unverblümt die Aggression. „Haben wir die Krim schon aufgegeben?“ (Maybrit Illner), „Geben wir die Krim schon auf?“ (Anne Will) oder wir bekommen in einer Didaktik für IQ-Downer von Marietta Slomka die Welt erklärt, natürlich mit der Konklusio, dass Truppen auf die Krim müssen.

So kompliziert die Lage sein mag, so archaisch der russische Präsident mit dem Gestus der militärischen Stärke auch spielen mag, können und wollen wir uns eine öffentlich rechtliche Propaganda-Abteilung leisten, die derart verkommen unsere Geschichte negiert?