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Der Doppelcharakter der Identität

Ein großes Problem, das den Menschen in der modernen, globalisierten Massengesellschaft attestiert wird, ist der Verlust an Identität. Wie auch, die Individualisierung, einst als das Glück der bürgerlichen Gesellschaft per se ausgerufen, hat sich so rasant entwickelt, dass das einzelne Individuum einem ganzen Kosmos sozialer Verstrickungen gegenübersieht, der unübersichtlich und nicht mehr beherrschbar erscheint. Identität, im Sinne einer kollektiven Erfahrung der Zugehörigkeit, scheint eine Erinnerung an die Vergangenheit zu sein. Kein Wunder also, dass sich immer mehr Menschen Bewegungen anschließen, die mit dem Versprechen auf dem Weg sind, alte Identitäten zu restaurieren oder neue zu schaffen. 

Identität an sich ist ein dem Menschen mit seiner sozialen Disposition innewohnendes Bedürfnis. Sie verschafft Sicherheit. Wer über eine gesicherte Identität verfügt, der kann den Zweifel an seiner eigenen Existenz unter Kontrolle halten und sich gesellschaftlich gewiss sein, nicht alleine zu stehen. Das ist eine Garantie gegen die Urangst des Homo sapiens, in der Verlorenheit einer komplexen Welt zu vergehen. Diese anthropologische Erkenntnis ist nicht neu und geht auch zurück in gesellschaftliche Episoden der Geschichte, die weitaus übersichtlicher waren als die heutige. 

Identität als kollektive Erfahrung hat jedoch einen Doppelcharakter, der nicht in Vergessenheit geraten darf. Indem Menschen sich gemeinsam zu einer Identität bekennen, müssen sie, ob sie wollen oder nicht, sich von anderen, bereits existierenden anderen Identitäten abgrenzen. Die große und bisher auch verheerende Lektion in diesem Prozess in der jüngeren Geschichte war die Herausbildung der Nationalstaaten. Das Ergebnis waren Sinn stiftende und florierende Prozesse nach innen, aber auch Abgrenzungen und Verhärtungen nach außen. Einfach gesprochen: wir sind nicht so wie die anderen. Das konnte kulminieren bis hin zum Erzfeind, mit dem immer wieder Kriege geführt wurden. Identität als Faktor der Aggression nach außen ist ebenso eine historische Konstante.

Es ist genau darauf zu achten, welche Art von Angeboten diejenigen machen, die bezeugen, an Identitäten zu arbeiten. Die Frage lässt sich relativ schnell beantworten, ob sie dazu dienen, handlungsfähige Existenzen zu bilden, die mit sich im Reinen sind und an einem zivilen friedlichen Projekt arbeiten, oder ob es ihnen um die Aggression nach außen geht, um Feindbildung schlechthin. Vieles von dem, was momentan auf dem Markt der zu findenden Identitäten zu beobachten ist, entspricht diesem Zweck. Solcherlei Identitäten führen in die Irre, sie dienen dazu, größere Projekte der Zerstörung zu befeuern und nicht, den Menschen die Sicherheit zu geben, um ihr Leben aus einer inneren Sicherheit heraus zivil und konstruktiv zu gestalten.

Insofern ist es geraten, das Bedürfnis nach Identität nicht zu verdammen, weil Anbieter unterwegs sind, die dem Ansinnen folgen, die Basis für Aggressionen zu schaffen. Wichtig scheint zu sein, sich der Aufgabe zu stellen und an Identitäten zu arbeiten, die Gemeinschaft herstellen, aber sich darauf konzentrieren, sie unter eine positive Vision zu stellen, die ohne Feindbilder auskommt. Auch dort wird es ohne Ausgrenzung nicht gehen, weil sie das Makel einer jeglichen Identität ist, der besagte Doppelcharakter. 

Eine positive Identität, die sich auf friedliche Interaktion, auf Respekt und Selbstbestimmung fokussiert, hätte quasi nur ein einziges Feindbild. Das wären diejenigen, die sich dieser zivilen Vision entgegenstellen, weil sie andere Interessen haben, und zwar die der Aggression. Mit einer solchen Ausgrenzung lässt sich allerdings leben. Oder nicht?

Politische Dyskalkulie

Noch ist es eine Woche hin bis zu den Landtagswahlen in Bayern. Und bei aller Vorsicht, die bei der Betrachtung von Prognosen gegeben ist, sieht es so aus, als müsse in dem immer etwas besonderen Bundesland mit einem politischen Erdrutsch gerechnet werden. Wenn sich das Bild, welches gegenwärtig gezeichnet wird, bestätigen sollte, dann ist es vorbei mit der absoluten, nahezu in Stein gemeißelten Mehrheit der CSU. Das hat mehrere Gründe. Zum einen hat sich die Struktur des Landes gewaltig geändert. Wie in der fernen Türkei ist auch in Bayern etwas geschehen, das mit der Globalisierung dieser Welt zu tun hat. Es hat eine Urbanisierung stattgefunden, die die Zusammensetzung der städtischen Gesellschaft stark verändert hat. Zu dem gesetzten Bürgertum und einem abnehmenden Proletariat hat sich eine Klasse hinzugesellt, die in kreativen Berufen unterwegs ist, die international vernetzt ist und vor allem eine neue Dimension toleranter Lebensverhältnisse für unabdingbar hält. 

So, wie Erdogan diesen Faktor in Städten wie Istanbul gewaltig unterschätzt hat, so ist es auch in München. Die Zeit der provinziellen Verabsolutierung des eigenen, illusorisch unterstellten Charakters, ist vorbei. Das Starren der CSU-Strategen auf Wahlarithmetik hat den Fokus darauf verhindert. Statt mit der landsmannschaftlich geprägten Tradition auftrumpfen zu können, wäre eine weltoffene, tolerante Perspektive die logische Konsequenz gewesen. 

Die Arbeitsteilung zwischen dem neuen CSU.Ministerpräsidenten und dem Heimatminister in Berlin, die darauf abzielte, mit dem alles dominierenden Thema der Überfremdung zu punkten, um der wachsenden Zustimmung von potenziellen AFD-Wählern zu gefallen, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Fiasko enden. Die Folge wird, dazu gehörten keine prophetischen Fähigkeiten, eine Diskussion um den Sündenbock sein. Der gerade von Seehofer so gern benutzte Slogan „Wir haben verstanden“ wird sich herausstellen als eine niederschmetternde Lernblockade. Verstanden haben sie nichts, weil sie glaubten, mit rückwärts gewandten Erklärungen die Weichen für die Welt von Morgen gestalten zu können. Die Probleme, die sich aus dem technologischen Fortschritt und der Internationalisierung der Ökonomie ergeben, sind mit dem Integrationserfordernis von maximal 1.5 Prozent der Bevölkerung nicht zu erklären. Da hat der faschistische Igel den bayrischen Hasen gewaltig genarrt.

Die Fakten, die sich in den Wahlergebnissen etablieren werden, könnten dazu führen, aus der gravierenden politischen Dyskalkulie zu lernen. Nur nicht, so ist abzusehen, bei den Betroffenen. Um die wird es aber schon bald nicht mehr gehen. Die Fragestellung, die sich auf die Zukunft konzentriert, wird anders aussehen. Sie wird sich beschäftigen müssen mit der gesellschaftlichen Adaption des technischen Fortschritts, sie wird sich befassen müssen mit den allgemeinen Anforderungen der Internationalisierung und sie wird sich befassen müssen mit den sich daraus ergebenden sozialen Herausforderungen. Die Antworten werden liegen im Bereich von Bildung und Qualifizierung, sie werden liegen auf dem Sektor von Wohnen und Arbeiten und sie werden liegen auf dem Feld des sozialverträglichen Arrangements unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte, die ökonomisch unterschiedliche Motive haben. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer politischen Kommunikation, die diese Aufgaben im Blick haben wird.

Das Debakel der CSU liegt in ihrer kompletten Ausblendung dieser Veränderungen. Dass dem so ist, ist der eigenen Unzurechnungsfähigkeit aus Größenwahn ebenso geschuldet wie dem Versuch, durch Ausgrenzung Sympathien bei denen zu erzeugen, die durch die eigene Politik bereits ausgegrenzt sind. schlimmer kann man sich nicht verrechnen.

Zur Delegation von Macht und Schuld

Die Aussage, dass der Prozess der Vereinigung ein langer ist, wie von der Kanzlerin anlässlich des 3. Oktobers formuliert, ist so richtig wie trivial. Die Feststellung allein führt nicht weiter. Vieles, was zu der Identitätskrise der Gesellschaft beigetragen hat, begann mit dem Jahr 1990. Einiges davon liegt in der Vergangenheit. Manches in der vor der Vereinigung, vieles in der Zeit danach. Es ist Zeit, sich darüber Klarheit zu verschaffen und sich einer Programmatik zu verschreiben, die konkrete praktische Folgen hat.

Ein Themenblock, der bis heute Wirkungsmacht versprüht, der allerdings dem Tabu unterliegt, ist die doppelte Ausblendung der Vergangenheit in Deutschland Ost. Zum einen wurde bereits bei der Teilung dort die Frage nach der Auseinandersetzung mit Faschismus und Krieg ausgeblendet. Die Mit-Verantwortung auch im Osten Deutschlands wurde von der offiziellen Doktrin schlichtweg negiert. Das historische Debakel der Diktatur wurde exklusiv als Angelegenheit des Westens deklariert und wurde dort im Zusammenhang mit den Jugendprotesten der späten 60iger Jahre ausgetragen. Die Wurzeln der Diktatur, die im Osten ebenso im kollektiven Bewusstsein schlummerte, wurde verdrängt.

Analog verlief es beim Prozess der Vereinigung. Auch jetzt regierte die Devise, dass die Blaupause für Entmündigung und Diktatur in Moskau und nicht in den Verhaltensweisen zu finden war, die in Frankfurt an der Oder oder in Jena zu finden waren. Chance negiert, Chance vertan. Was sich damit zu einer kollektiven Tradition etablierte, war die Schuldzuweisung nach außen und die Exkulpierung des Inneren.

Nun war der Westen zum Paradigma aller geworden. Von denen im Westen durchaus kritisch gesehen und praktiziert, von denen im Osten mit Hoffnung begrüßt und zum Schluss mit Enttäuschung quittiert. Jetzt zahlte sich das Defizit an Eigenverantwortung aus und schlug seinerseits Wurzeln.

Was in beiden Teilen des Landes seitdem grassiert, ist die Suche nach Verantwortlichen für Fehlentwicklungen. Dass diese hausgemacht sind und nicht bei den berühmten externen Sündenböcken zu finden ist, führt zu einer weiteren Frustration. Denn tief im Innern schlummert bereits die Erkenntnis, dass das, was die Zuversicht in beiden Teilen Deutschlands zerstört, im eigenen Land zu finden ist und nicht mit der Liquidierung dieses oder jenes Unglücksraben zu beseitigen ist.

Vor diesem Land steht harte Arbeit. Sie muss sich konzentrieren auf die Enthüllung der Mechanismen, die zu sozialer Spaltung führen, sie muss sich auseinandersetzen mit dem Spiel der Macht, das viele abstößt und sie muss sich auseinandersetzen mit der Konstruktion von Tabus, die dann aktiviert werden, wenn es darum geht, die Interessen derer freizulegen, die Ursache für manche Misere sind.

Was jetzt zählt, sind praktische Konsequenzen. Was jetzt zählt ist konkrete Aktion. Dort, wo das Misstrauen groß ist, muss selbst gehandelt werden. Und das ist nicht im Berliner Reichstag, sondern überall da, wo gearbeitet, gelernt und gelebt wird. Jede Alltagsroutine zählt. Dort, wo entmündigt wird, muss die Auseinandersetzung gesucht werden und dort, wo Entscheidungen gefällt werden, die ausgrenzen, die manipulieren und die das Verhältnis von Richtig und Falsch auf den Kopf stellen, müssen diese revidiert werden. Das muss vor Ort ausgefochten werden. Das verlangt Courage, Energie und es verlangt auch Verluste. 

Die Zeit der Delegation, von Macht wie von Schuld, muss ein Ende haben. Die Verantwortung dafür tragen alle. Es steht viel auf dem Spiel.