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Was ist ein Putsch?

In wirren Zeiten, in denen eine simultan sprechende Öffentlichkeit die Tagesereignisse kommuniziert, entstehen oft Legenden, die auf falscher Wahrnehmung basieren und dann kaum noch zu korrigieren sind. Vor allem wenn die Protagonisten des öffentlichen Lebens von Anfang an an Legenden basteln. In solchen Momenten hilft dann immer wieder der Blick in über allen Moden stehende Nachschlagewerke, die sich der Etymologie und historischen Dokumentation verpflichtet fühlen anstatt dem politischen Kalkül. Die Encyclopaedia Britannica ist so ein Werk, in Deutschland Brockhaus, Duden oder das Deutsche Wörterbuch von Wahrig. Egal, welche der genannten Werke man bemüht, der Begriff Putsch ist eindeutig definiert.

 Etymologisch geht der Terminus auf das Wort Schlag zurück, und zwar in verschiedenen europäischen Sprachen, ob im Schweizerischen (Putsch), im Französischen (Coup) oder Spanischen (golpe). Aus seiner Historie heraus wird ein Sachverhalt geschildert, der beschreibt, dass zumeist Militärs mit dem exklusiven Ziel der Machtübernahme gewaltsam die bestehende Regierung überwältigen und sich an ihre Stelle setzen.

 Es muss daher erstaunen, dass das sich selbst als besonders demokratisch empfindende politische Personal der Bundesrepublik Deutschland in der Charakterisierung der jüngsten ägyptischen Ereignisse sogleich einig war: es handelt sich um einen Putsch. Qualitativ abgesichert wurde diese Einschätzung sogleich in den seichten Nachrichtensendungen durch vor Bücherschränken positionierten Politologen, die die gewagte These aus wissenschaftlicher Perspektive untermauerten.

 Wie so oft haben die ägyptischen Ereignisse wenig zu tun mit der bundesrepublikanischen Wahrnehmungsrealität. Seit den Wahlen, aus denen die Muslimbruderschaft als Sieger hervorging und Mursi zum Präsidenten wurde, hat sich die Lage des Landes in nahezu jeglicher Hinsicht dramatisch verschlechtert: Seit 2011 stieg die Mordrate um 300 Prozent und die des bewaffneten Raubüberfalls wuchs um das 12-fache. Die Arbeitslosenquote stieg ebenfalls dramatisch aufgrund von Betriebsschließungen. Während die Regierung Mursi zunehmend radikalere, zum Teil den Terrorismus offen verteidigende Mitglieder in sein Kabinett aufnahm, wurden die mehr und mehr ökonomisch auftretenden Engpässe aus Krediten aus Riad und Bahrain finanziert. Beide Regimes stehen für eine Radikalisierung. Die Übergriffe auf andere Kulturen und politische Meinungen nahmen radikal zu, Kirchen wurden reihenweise in Brand gesetzt und die Vergewaltigung von Frauen auf offener Straße zu einem von den Sicherheitskräften nicht geahndeten Drohdelikt gegen Oppositionelle.

Neben einer zahlenmäßig großen und weiter wachsenden Opposition der Straße hat das Militär in einer durchaus als patriotisch zu beschreibenden Aktion dem politischen wie wirtschaftlichen Desaster der Regentschaft Mursis ein Ende gesetzt. Wäre es ein Putsch, regierte nun das Militär. Stattdessen wurde ein Übergangsrat eingesetzt, dem ein international durchaus respektierter Politiker, der Vertreter der größten Moschee Kairos und der Vertreter der koptischen Christen aus Alexandria angehören. Ihr Auftrag ist die Vorbereitung neuer Wahlen, ihre Zusammensetzung weist eindeutig auf die Idee der Konkordanz, d.h. der synergetischen Existenz unterschiedlicher Kulturen innerhalb einer Gesellschaft hin. Die Bevölkerung scheint diese Schritte in hohem Maße zu begrüßen und die einzige Sorge besteht darin, dass sich die Muslimbrüder radikalisieren. Die von den Militärs gesetzten Zeichen haben mit einem Putsch nichts gemein.

 Der Außenminister der Bundesrepublik sprach in Athen vor laufenden Kameras über die Neuigkeiten aus Kairo und nannte sie einen Rückschlag für die Demokratie. Damit stieß er in das gleiche Horn wie die Grünen und der sich zum populistischen Ideologen mausernde SPD-Vorsitzende. Aus Sicht der Ägypter war es ein notwendiger Schritt auf dem steinigen Weg einer selbst erkämpften, und nicht von Dritten geschenkten Demokratie.

Wachsender Druck im nordafrikanischen Kessel

So, als lebten wir in Wolkenkuckucksheim, erzählen unsere Nachrichten wie gewohnt die nationalen Befindlichkeiten bis ins kleinste Detail. Welchen Anzug Westerwelle in der Stuttgarter Oper trug, wie viele Kontrollen angebracht sind, um die Kontaminierung von Lebensmitteln zu entdecken, wie viel Steuern man dem Mittelstand erlassen kann, wenn die wirtschaftliche Entwicklung so weiter geht wie im Moment. Gleichzeitig sind in Weißrussland und in Ungarn deutliche Zeichen zu vernehmen, dass dort die Uhr erneut auf Bolschewisierung steht.

Gleichzeitig werden einzelne Nachrichten aus dem Norden Afrikas bekannt, die isoliert betrachtet zwar beunruhigend sind, in einer zusammenhängenden Berichterstattung jedoch deutlich machen würden, dass sich in ca. 2 ½ Flugstunden Entfernung vom Stuttgarter Bahnhof soziale Unruhen manifestieren, die zu einer Flutwelle eskalieren können, zumal sie internationale Allianzen mit sich ziehen könnten. Das Informationszeitalter, so könnte man folgern, macht satte Menschen nicht neugieriger, und dumme nicht gescheiter.

Die erste Meldung kam aus dem ägyptischen Alexandria und bezog sich auf einen Anschlag muslimischer Extremisten auf die Kirche koptischer Christen. Die Regierung dementierte interne Konflikte und wies auf ein internationales Netzwerk. Dann rumorte es in Algerien, wo es zu Ausschreitungen kam, als die Regierung die Preise für Zucker, Mehl, Öl und Milch hinaufsetzte. Die an Staatsdevisen reichste Regierung des Maghreb zuckte verwundert mit den Achseln. Und dann wurde in insgesamt 15 größeren Städten Tunesiens der Aufstand geprobt, weil die seit Jahrzehnten herrschenden Familien immer dreister und korrupter wurden. Letzteres schaffte es nicht einmal mehr in unsere Nachrichtenportale. In Marokko ist es noch ruhig, aber man muss kein Prophet sein, dass es dort einen Überfremdungsimpuls gegen die vor allem in Marrakesch wütenden Dekadenzeliten aus Europa und natürlich die damit verbundene Politik des Königs geben wird.

Es handelt sich bei den Auseinandersetzungen um erste Warnzeichen für ökonomische Spannungen, die auf der südlichen Seite des Mittelmeeres sich ins Unerträgliche zu steigern drohen. Die ägyptischen Kopten sind zumeist griechischer Herkunft und eine überaus erfolgreiche und solvente Händlerkaste, die zunehmend nach Europa orientiert ist und einer die große Mehrheit pauperisierenden Volkswirtschaft der Muslime den Rücken kehrt. In Tunesien sind es vor allem die kommunalen Gemeinwesen, die ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können, weil die Korruption zu weit fortgeschritten ist. Und in Algerien ist die muslimische Regierungselite zu sehr unbeeindruckt von dem kabilischen Hinterland, das seinerseits in der Lage ist, eine anti-islamische Guerilla zu installieren, die gegen die Zentralregierung in Algier vorgehen könnte.

Vor allem in Ägypten und in Algerien verbergen sich hinter den Konfliktparteien geostrategische Interessen, die mit den christlichen und islamischen Kulturkreisen kongruent sind und die Angelegenheit zu einem Pulverfass machen. Der Norden Afrikas ist dabei, globale Entwicklungslinien direkt an den Rand Europas zu bringen.