In der Literatur findet sich einiges über die Ahnungslosigkeit bestimmter Individuen wie Gesellschaften, kurz bevor sich Großes ereignete, das die alte Ordnung auf den Kopf stellte. Louis XVI. trug am Tag des Sturms auf die Bastille in sein Tagebuch ein, er habe fünf Fansanen und drei Hasen geschossen. Mehr nicht. Am Zarenhof zu Petersburg bereitete man fieberhaft eine Soiree vor, bevor die bewaffneten Bolschewiki das Winterpalais stürmten und der Herrschaft der Romanows ein Ende setzten, am Vorabend beider Weltkriege gab es in Deutschland jede Menge Sportveranstaltungen, Gesangsabende und Theatervorstellungen. Und immer kamen im Nachhinein Fragen auf, wie es denn möglich gewesen sei, dass man so unvorbereitet, so ahnungslos oder so phlegmatisch oder bräsig vor der großen Katastrophe sein konnte.
Angesichts dieser Geschichten drängt sich die Phantasie auf, wie es wohl Nachkommen, sofern es dazu noch kommen wird, sich mokieren werden über die Ahnungslosigkeit, die Sattheit, die Ignoranz und ja, die Dummheit, mit der man zum Beispiel in Deutschland es hat zulassen können, offenen Auges und ohne jedwede Reaktion des Widerstandes in die große Katastrophe eines kollektiven Ruins hat in hohem Tempo hineinschlittern können. Gründe und Anzeichen hat es doch genug gegeben, die alle Alarmglocken hätten läuten lassen müssen. Staatlich, systemisch, ökonomisch, sozial, militärisch. Unabhängig davon, aus welchem Segment man es beobachtete, alles deutete auf Demontage und Krieg.
Die Demokratie wurde seit Jahren beschädigt, demokratische Grundrechte wurden verwehrt, die Gewaltenteilung verwischt, die Monopolisierung der Presse verwandelte das Nachrichtenwesen in Propagandamaschinen, die Vermögensverhältnisse stellten alles auf den Kopf, was die Menschheit bis dahin an Ungerechtigkeit kannte, der Reichtum der einen entzog sich dem menschlichen Fassungsvermögen und die Armut der anderen schufen neue Bilder der Sklaverei, und militärisch verfügte man über nichts, was hätte als Stärke gelten können und man entmündigte erfahrene Soldaten und gaben das Kommando in die Hände von Scharlatanen.
Ja, so werden die Nachgeborenen die wenigen Überlebenden fragen, habt ihr denn nicht sehen können, was da auf euch zukommt? Wieso habt ihr es hingenommen, dass die Schlechtesten das Steuer an sich rissen und alles in kurzer Zeit verraten konnten, worauf ihr lange Zeit so stolz gewesen seid? Wieso habt ihr alles schreddern lassen, was eine lebenswerte Gesellschaft ausmacht? Das Bildungssystem? Die Gesundheitsfürsorge? Die Renten? Die Infrastruktur? Die Kultur? Alles wurde zunächst von einem Mob ohne Armbinden erobert und dann demontiert und die spirituelle Stärke in den Abfluss gekippt! Wo ward ihr? Welche Petitessen waren wichtiger als das Essenzielle? Wann hat eure Interessenlosigkeit, eure Müdigkeit, eure Nonchalance und eure Wurstigkeit eingesetzt? Dass ihr es hingenommen habt, euch dermaßen hinters Licht führen zu lassen?
Erwartet keine Milde und kein Verständnis von den Nachgeborenen. Sie werden in den Trümmern wühlen und es stellt sich tatsächlich die Frage, ob sie dabei mehr von einer naiven Hoffnung angetrieben werden oder doch mehr von einem wilden Zorn über das dekadente Ensemble, dem sie ihre Not und Dürftigkeit verdanken.
Ja, es lohnt sich, über die Zeit danach nachzudenken. Denn wer zweifelt noch daran, dass die Abrissunternehmer und Kriegstreiber, die momentan die Geschäfte führen, genau das erreichen werden, was ohne Übertreibung die große Katastrophe genannt werden kann?
