Schlagwort-Archive: Ästhetik des Widerstands

Dem Weltgeist ins Auge geschaut

Peter Weiss. Die Ästhetik des Widerstandes

Was für ein Thema und was für ein Leben! Peter Weiss, der Sohn aus gutem Hause, der in Villen aufwuchs und dennoch zu kämpfen hatte, weil er Maler werden wollte und nicht einer Profession nachgehen, in der das Geld gezählt wurde. Zum Outcast wurde die Familie trotzdem, weil der Vater jüdisch war und das Nazi-Unheil seinen Lauf nahm. Schon früh emigrierte die Familie nach London, wo sie nicht Fuß fasste, dann ging es nach Mähren, wo kurz danach die Faschisten auftauchten und dann nach Schweden, wo der damals dreißigjährige Peter Weiss bis zu seinem Tod in den sechziger Jahren bleiben sollte.

Nach dem Scheitern in der Malerei folgten die ersten literarischen Versuche, noch während des und nach dem Krieg, intellektuell bis zum Exzess, aber voller Wahrheit. Die Biographie des Autors war eine für die Frakturen des europäischen Kontinents, der politischen Verwerfungen und der kulturellen Brüche. Und Peter Weiss antwortete mit seinem finalen Werk, der großen Trilogie über das, um mit Doktor Faust zu sprechen, was den Widerstand zusammenhält. Die Ästhetik ist ein großes Werk, weil sie etwas reklamiert, was vorher niemand reklamiert hat und weil sie vielleicht das enthält, was als die Geheimformel für jede Revolution und das Überleben schlechthin identifiziert werden kann.

Das Werk, das manchmal spröde daher kommt, spielt einerseits auf der Folie des deutschen Faschismus und den Kämpfen gegen ihn und andererseits im Museum, wo die Protagonisten, junge Berliner Arbeiter, sich die Geschichte erarbeiten. Ihre Objekte sind der Tempel von Ephesos oder das Floß der Medusa. Sie wirken zunächst als Phänomene und enden als hinterfragte Objekte. Das ist es, was Weiss in die Flaschenpost seiner Geschichte eingerollt hat. Die Fragen des kritischen Publikums, das ein sehr konkretes Interesse hat, an die großen Wirkungen die Phänomene der Geschichte.

Heute, als hätten sie sich abgesprochen, stehen diese Fragen aus der Feder Bertolt Brechts majestätisch am Berliner Schiffbauerdamm. Es sind die Fragen eines lesenden Arbeiters, aus denen das Elixier der Ästhetik des Widerstandes gemischt ist und die Peter Weiss seinen Lesern mitgibt. Die Mühen, die seine Protagonisten mit dem Erwerb dessen hatten, was als kulturelle Substanz beschrieben werden muss, diese Mühen sind immens, in den Stadien der Illegalität, der Flucht und der Unsicherheit. Aber, und das ist das Diktum des großen Schriftstellers, dessen ganzes Leben für das Exil stand, die Mühen, sich eine kulturelle Substanz zu schaffen, sind existenziell notwendig. Weil ohne kulturelle Substanz ist weder der Widerstand, noch die Revolution und erst recht nicht das nackte Überleben möglich.

Die Perspektiven, die Techniken, die sprachlichen Konstruktionen und grammatischen Formen, mit denen Weiss in diesem Monumentalwerk arbeitet, sie alle dokumentieren, was als These nachher zu dechiffrieren ist: Widerstand wie Revolution sind ein Projekt, das in erster Linie zivilisatorisch zu begreifen ist. Die kulturelle und zivilisatorische Qualität sind kein schmückendes Beiwerk der Revolution, sondern ihre Conditio sine qua non. Dass der Autor damit, selbst in dem Lager, dass sich selbst als links bezeichnete, kein überschwängliches Lob erhielt, versteht sich angesichts solcher Verirrungen wie dem Proletkult nahezu von selbst. Aber das bis heute Abschreckendste, das dieses Buch zu bieten hat, ist die Mühe seiner Lektüre. Angesichts der These des Autors aber folgerichtig. Wer die Moderne verstehen will, wer dem berühmten Weltgeist einmal ins Auge gesehen haben will, der muss sich dieser Mühe aussetzen!

Futur II und Plusquamperfekt

Es steht außer Zweifel, dass das Studium der Geschichte in hohem Maße dazu beiträgt, die Gegenwart zu verstehen. Gerade in unseren Tagen, die geprägt sind von wachsenden Geschwindigkeiten und sinkenden Halbwertzeiten dessen, womit wir unser Dasein gestalten, scheint die Geschichte ein schnöder Mammon geworden zu sein, allenfalls noch attraktiv für die Menschen von gestern. Folgerichtig sinkt das oral Überlieferbare an relevanter Geschichte. Menschen, die reflektieren, was sie oder die noch verfügbaren Generationen vor ihnen erlebt haben, gehören zu einer immer kleiner werdenden Minderheit. Daneben existieren Datenbanken, zugänglich für jedermann, aber auf die greifen nur die Experten zu und wären sie nicht virtuell, dann würden sie verstauben.

Doch auch die Historiker, die sich professionell mit der Materie der Vergangenheit beschäftigen, sind nicht par excellence Experten für die Deutung der Gegenwart. Lassen sie sich in den Dienst virulenter Tagesinteressen stellen, so beschädigen sie ihre eigene professionelle Reputation. Heinrich August Winkler ist so einer. Mit seiner Geschichte des Westens hat er sicherlich ein Werk geschaffen, das dazu beitragen könnte, die Entwicklung der Politik aus einer bestimmten Perspektive zu erhellen. Seit er sich jedoch auf die Rampe hat stellen lassen, um eine Synchronität abendländischer Werte mit der NATO herzustellen und an der Konstruktion eines russischen Feindbildes zu werkeln, hat er die historischen Wissenschaften weitreichend betrogen. Für diese Leistung wird er nun auf der Leipziger Buchmesse geehrt. Willkommen in der Gegenwart!

Die Geschichte bleibt trotz solcher Enttäuschungen ein Metier, das nicht nur bei der Dechiffrierung der Gegenwart helfen kann. Da die Geschichte Grundmuster menschlicher Handlungsweisen in bestimmten Kontexten freilegt, kann sie sogar dazu dienen, es mit den Potenzialen der Zukunft aufzunehmen. Im Westen, um bei Winklers Perspektive zu bleiben, ist das allerdings weniger ausgeprägt als in Asien, vor allem in China. Während hier, tief im Westen, die Deutung von Zukunft immer noch mit Krankheit, Irrsinn oder Magie assoziiert wird, gehört die Betrachtung von Geschichte und Zukunft in China zu einer Grundübung eines jeden gebildeten Menschen. Der Westen, mit seiner atemberaubenden Verwertungslogik, erscheint dagegen wie eine Amöbe.

Das war nicht immer so. Nicht vergleichbar mit China, aber immerhin hatten die politischen Parteien des bürgerlichen Zeitalters noch den Anspruch, Zukunft zu gestalten. Niederschlagung fand das in politischen Programmen, die dazu geeignete waren, einen Zukunftsentwurf zu lesen. Mag es zum einen die Schnelllebigkeit sein, die zum Verschwinden dieser Programme beigetragen hat, zum anderen war es die wachsende Furcht, sich festzulegen und damit von der Geschichte widerlegt zu werden. Alles, was den Anspruch dokumentiert, über Zukunft nachdenken zu wollen, setzt sich der Gefahr aus, bei Bekanntwerden skandalisiert zu werden. Da wundert es nicht, dass sich Politikerinnen und Politiker hüten, Aussagen zu Ihrer Meinung über die Zukunft zu machen. Die bequemste, aus gesellschaftlichem Interesse aber auch die dümmste Konsequenz aus diesem Dilemma ist die Aussage „Wir fahren auf Sicht“!

Bei allen Schwierigkeiten, die bei der Beschreibung einer verständlichen Kontur von Zukunft auftreten und die durch wachsende Interdependenzen und größere Komplexität nicht weniger werden, jeder kann es üben. Es ist schwer, aber es sollte versucht werden. Peter Weiss hat das auf den letzten Seiten seiner Ästhetik des Widerstandes gemacht. Da beschreibt er Entwicklungen, die in der Zukunft schon abgeschlossen sind. Selbst das Deutsche tut sich damit schwer. Futur II und Plusquamperfekt. Versuchen Sie es mal! Geben Sie der Zukunft eine Chance!