Du kennst das. Wie ein Fliegerangriff rauscht der Klang des Weckers in dein Schlafzimmer. Mitten aus dem Nichts schnellst du hoch, ohne Orientierung, den kalten Schweiß im Nacken, Herzrasen. Dann, so langsam, während du schluckst und schmatzt wie ein Bär, wird dir bewusst, wo du bist und dass dich ein äußerer Zwang zu irgend etwas treibt. Es ist die Pflicht, die dich ruft, deren Sinn du nicht verstehst.
Langsam schleichst du aus deiner Höhle hinaus und tastest dich ins Badezimmer. Und die ersten Signale, die du empfängst, sagen dir, dass das nicht dein Tag wird. Da ertappst du dich dabei, dass du dir Rasiercreme auf die Zahnbürste drückst oder Zahncreme in den Pinsel jagst, du schneidest dich mit zittriger Hand, und rutschst beim Duschen fast aus. Als wäre das alles nicht genug, als sagte dir das Schicksal nicht jetzt schon: lass es sein!, tastest du dich weiter vor in die Küche und verschüttest prompt den Kaffeesatz, bevor du die Maschine neu befüllen kannst.
Aus dem Radio kommen Nachrichten, die den Weltuntergang nahelegen und ein Wetterbericht, der klingt wie Dantes Inferno. Spätestens jetzt solltest du begriffen haben, dass das nicht dein Tag wird. Aber nein, du bist ein pflichtbewusster Mensch und lässt dich vom geraden Pfad ihrer Erfüllung nicht abbringen. Während du die Zeitung holst, begegnet dir der Nachbar, den du schon immer am Zaun hängen sehen wolltest und du schämst dich, weil du nicht ehrlich bist und ihn zur Strecke bringst, sondern ihn auch noch freundlich grüßt. Da fühlst du dich schlecht, sehr schlecht. Dann setzt du dich an den Küchentisch, schlägst die Zeitung auf und ärgerst dich schon wieder. über die Politik, über die Niederlage deines Vereins und über die Wettervorhersage. Schnaufend faltest du das ohnehin schlechte Blatt, dass du schon vor Jahren kündigen wolltest, zusammen und wirfst es in die Kiste mit dem Altpapier.
So langsam, glaubst du, kommst du auf Betriebstemperatur. Du schreitest mittlerweile majestätisch auf den Kühlschrank zu, öffnest die Tür und holst Eier und Speck heraus. Du bist alleine, sagst du dir, Ökopolizei und Gesundheitsgeheimdienst sind auf Dienstreise, heute kannst du leben wie ein König. Du stellst die Pfanne auf den Herd und machst sie mit echter Butter geschmeidig, wirfst den Speck hinein, wartest, bis er Hymnen singt und goldbraun wird, bevor du zischend die Eier in die Hölle wirfst. Zwei Scheiben Toast aus reinem Weißmehl, die dir entgegen strahlen wie eine Parole auf einer Demonstration, empfangen den Pfanneninhalt wie gierige Kinder. Nun steht alles auf dem Tisch. Zur Krönung holst du dir eine Tasse von dem starken Kaffee, schwarz wie die Nacht. Fast rituell ist erst ein Schluck Kaffee fällig, bevor du das Mahl, dass dich mit dem beginnenden Tag versöhnen soll, zu dir nimmst.
Doch anstatt wohl gefälliges Grunzen entfährt dir ein Laut heiseren Protestes, während du die Brühe Richtung Lampe bläst. Dass dein Gehirn wieder arbeitet, merkst du sofort, du weißt, dass das Elixier nach Essig schmeckt, wofür die große Liebe deines Lebens verantwortlich ist, die die Maschine gereinigt und die Verkalkung bekämpft hat. Doch deine Laune schlägt um, oder genauer, sie kehrt zum morgendlichen Ausgangspunkt zurück. Du stürmst aus der Küche, rennst in dein Arbeitszimmer, reißt die Schublade vom Schreibtisch auf, greifst dir den Revolver und entleerst die ganze Trommel beim Zerschießen des Kronleuchters. Das tut verdammt gut. Und auch dieser Tag kann beginnen.
Als wir zum ersten Mal in Pangandaran waren, einem Küstenort auf der Insel Java, der am Indischen Ozean gelegen ist, gab uns unser damaliger Indonesien-Mentor, Gero von Harder, den Tipp, doch das Tempo Doeloe aufzusuchen. Der Name bezeichnete die alten, vergangenen Zeiten und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, als ich erfuhr, dass das Lokal einem Holländer gehörte. Doch mit dem Betreten des Lokals war sofort klar, dass damit nicht die koloniale Vergangenheit gefeiert werden sollte. Peter IJsseling bot ausschließlich traditionelle Javanische Küche an und der gesamte Staff stammte aus Pangandaran. Mit dem Lokal wollte sich der Holländer, der einfach Land und Leute liebte, eine Existenz schaffen, um in Indonesien bleiben zu können. Doch wie so oft, ist die Idee, Gastronomie zu betreiben und davon leben zu können eine schöne Illusion, vor allem, wenn man nicht vom Fach ist. Denn Peter war Physiotherapeut. Und zwar ein guter wie geschätzter. Und als er einsah, mit seinem Tempo Doeloe nichts verdienen zu können, schloss er den Laden und versuchte es in Indonesien als Physiotherapeut. Das Geld, das er damit verdienen konnte, reichte allerdings nicht und so begann er, für Urlaubsvertretungen in Deutschland und der Schweiz mehrmals jährlich seine sieben Sachen zu packen und mit für javanische Verhältnisse viel Geld jedesmal zurückzukehren.
Ein schönes Haus hatte er bereits, in einem Kampung, wo ausschließlich Bauern und Fischer lebten. Peter sprach ein ausgezeichnetes Indonesisch und seine immer freundliche, respektvolle zu zugewandte Art sorgte dafür, dass er dort, wo er wohnte, gut leben konnte. Hinzu kam, dass er einen javanischen Partner hatte, der aus Pangandaran stammte. Immer, wenn er in den folgenden Jahren in Jakarta zu tun hatte, um Dinge in der niederländischen Botschaft zu erledigen oder Arbeit als Physiotherapeut zu suchen, kam er zu uns. Es war, als käme ein Familienmitglied, wir genossen immer seine Gesellschaft, aßen zusammen, tranken Bintang Bier und hörten Jazzmusik. Peter wusste soviel über unser Gastland, er kannte nicht nur seine Sonnen-, sondern auch seine Schattenseiten. Trotzdem, was immer überwog, war seine Liebe zum Land. Und man sah dem einstigen Taekwondo-Kämpfer zunehmend an, dass er die dortige Küche wohl am meisten liebte.
Einige Jahre, nachdem wir nach Deutschland zurückgekehrt waren, entdeckte ich ihn wieder in den sozialen Medien. Mittlerweile arbeitete er Fulltime als Physiotherapeut in Zürich und fuhr mehrmals jährlich nach Pangandaran, zu seinem Partner und seinem Haus. Er erzählte mir dann, dass er das noch so bis zu seiner Verrentung machen wolle, um dann endgültig zurück nach Indonesien zu gehen. Das realisierte er dann und wir hielten Kontakt. Immer, wenn etwas geschah, von dem er dachte, dass das auch meine alten Kontakte beträfe, informierte er mich und hielt mich auf dem Laufenden. Und fast täglich hatten wir Spaß an den Bildern aus Pangandaran, vor allem jenen aus der Küche, wo täglich ein kulinarisches Fest veranstaltet wurde. Und einmal im Jahr fuhr der Mann aus Delft zurück in seine Heimat zu Pa Piet, seinem uralten Vater, um mit ihm an Weihnachten beim Chinesen Essen zu gehen. Bei seinem letzten Besuch ging er auch in das Viertel, in dem er aufgewachsen war, lief dort die Straßen entlang, besprach die Aufnahmen, die er machte und erzählte, was er als kleiner Junge und Jugendlicher dort erlebt hatte. Und man konnte heraushören, dass er den Blues hatte. Und mir wurde deutlich, dass vieles meiner Jugend glich. Für kurze Zeit schmerzten die Narben des Vergangenen.
Und als führte das Schicksal einmal wieder Regie, geschah es, dass wir, die wir uns momentan in den Niederlanden aufhalten und kurz nach dem Besuch in einem indonesischen Lokal die Nachricht von Shirin, der Tochter von Freunden aus Pangandaran, die heute in Heidelberg lebt, erfuhren, dass Peter plötzlich gestorben ist. Todesursache ungeklärt. Der freundliche Holländer ist, wie die Javaner sagen, vergangen. Jetzt ist Peter IJsseling auch Tempo Doeloe. Jalan berbeda, Jiwa bersama. Die Wege sind unterschiedlich, die Seelen bleiben zusammen.
Flug Frankfurt am Main – Shanghai – Pudong, China Air, 10 Stunden, insgesamt vier Minuten Verspätung bei Ankunft! Alles reibungslos, freundlich, geschäftsmäßig. Hotel o.k., Fahrt zum Bund. Bizarrer Kontrast von Kolonialgeschichte und chinesischem Zeitalter. Einfache Menschen, die sich nahezu amüsiert in dieser historischen Kluft bewegen. Abends Light Show anlässlich des 35. Jahrestages der großen Liberalisierung. Die jungen Katzen feiern mit. Mögen sie das Mäusefangen nicht verlernen!
17.04.2025, Shanghai
Shanghai, der Drachenkopf, Mündungsort des 6800 Kilometer langen Yangtse Kiang. Ji Xinping war hier mal Oberbürgermeister. Wer die heute 24 Millionen Menschen zählende Feuer speiende Stadt zu managen weiß, kann alles. Hier trifft sich Tradition, Gegenwart und Moderne, hier ist die Anarchie zuhause und Millionen autonome Köpfe, die ihrem Kompass folgen. Hier wird auf dem holprigen Parkett der Superlative getanzt. Das am Bund verewigte Shanghai war die Hölle derer, die heute das Panorama beherrschen. Die Erfolge sind genauso sichtbar wie die zu erwartenden Probleme.
Heute wirkt die Partei, die die Skelette aus den Furchen gekratzt und zu einer ungeheuren Macht hat werden lassen, wie eine strenge Gouvernante, die über die Ordnung wacht. Und sie scheint alle zu lieben, die fleißigen Bienchen wie die genialen Zündler. Shanghai wirkt wie eine Versuchsanstalt für die neue Welt.
19.04.2025
Hangzhou, eine kleinere Stadt mit 12 Millionen Einwohnern. Hier ist Ali Baba zuhause, die größere, chinesische Version von Amazon. Hangzhou atmet tropisch wie Shanghai, gilt als steinreich. Die Unterschiede zwischen Bescheiden und Reich sind immens. Nicht nur, um den Verkehr zu regulieren, bittet der Staat die Saturierten zur Kasse. Ein Nummernschild für eine PKW-Zulassung kostet 12.000 Euro. Wer zahlt, darf an einer Verlosung teilnehmen. Bei Motorrädern mit Verbrennermotor liegt der Preis bei 30.000 Euro pro Nummernschild. Ein E-Roller kostet 100 Euro.
Immobilienbesitz ist grundsätzlich auf siebzig Jahre beschränkt. Kurioserweise übernommen aus der Rechtssprechung der ehemaligen britischen Kronkolonie Hongkong.
Am Wochenende geht man auch in Hangzhou mit Familie und Freunden Essen. Letzteres ist eine zentrale Instanz. Je lauter das Gebrüll aus einem Lokal, desto besser die Referenz für die Köche. Das Museum für den großen Kanal, der von hier in das weit über 1000 Kilometer entfernte Peking führt, ist pädagogisch grandios, multimedial und spricht die Menschen an. Bei der Betrachtung der Besucher wird deutlich, wieviel Spaß es machen kann, etwas über Geschichte, Kultur, Technik, Sozialverhältnisse und Ökonomie zu lernen, bei süßen Sesamplätzchen oder einem leckeren Eis aus grünem Tee.
Die benachbarten Parks und Plätze atmen eine wohlige Atmosphäre des Gemeineigentums. Klar, dass die Kommunistische Partei mit einem eigenen Kiosk zugegen ist. Es festigt sich der Eindruck, dass der Glaube an die Allianz von Fleiß und Glück überwiegt. Noch?
20.04.2025, Hangzhou
Hangzhou. Ein Sonntag am Western Lake. Die Menschen machen Bootsfahrten, tanzen in den Parks, spielen Go oder Schach. Eine Band spielt Bella Ciao, Studenten machen Umfragen und lernen den Perspektivenwechsel. Später, in den Teeplantagen, warten zwei Chinesinnen auf Gäste aus Jordanien. Beide sprechen Arabisch und erzählen, so lange sie auf die Gäste warten, dass im arabischen Raum viel Tee getrunken wird und sie jetzt beraten, wie dort eine Tee handelnde Mittelschicht entstehen kann, wenn es vernünftige Kreditsysteme, eine funktionierende Infrastruktur, fachliche Qualifikation und langfristige Kooperationen gebe. Und immer wieder die Frage: Was halten Sie von China? Was machen wir gut, und wo können wir uns verbessern?
Gestern Abend waren wir in einer Räuberhöhle, mit viel Rauch und Schnaps und Geschrei. Heute zeigte ich auf ein Bild und bekam ein gehäckseltes Huhn mit allem, worüber sich eine hungrige Katze freuen würde.
21.04.2025, Suzhou
Ein verregneter Tag, was dem explosiven Treiben in diesem Land keinen Abbruch tut. Suzhou liegt 180 Grad nördlich von Hangzhou und 100 Kilometer westlich von Shanghai. Von den 11 Millionen Einwohnern der Stadt sind 7 Millionen Schläfer, die in Shanghai arbeiten. Da die Mieten in Suzhou wesentlich günstiger als in Shanghai sind, pendeln 7 Millionen Menschen täglich nach Shanghai. Mit dem Schnellzug, der alle 5 Minuten fährt und für die 100 Kilometer 20 Minuten braucht.
Wer sich ein Bild davon machen will, wie Wohnen, Arbeit und Mobilität in einem für europäische Verhältnisse überbevölkerten Land gemanagt werden kann, komme nach China! Hier fühlst du dich wie ein Gesandter aus dem Land der Zwerge. Und für Hochmut, angesichts der eigenen politischen Überforderung, ist wirklich kein Platz.
In meinem Hotel liegen auf dem Schreibtisch ein feiner Bleistift und ein Lineal, im Land weit entwickelter Künstlicher Intelligenz und einer radikalen Nutzung digitaler Techniken. Die Koexistenz von Tradition und Hochmoderne scheint hier wie eine conditio sine qua non. Kein Hochmut von Nutzern komplexer Technik gegenüber den Meistern Jahrtausende alter Tradition. Und keine Verachtung des Meisters gegenüber den Anwendern moderner Technik. Lernen und Üben wird überall groß geschrieben und Können in aller Bescheidenheit relativiert.
22.04.2025, Quindao
Wer nicht jährlich oder quartalsmäßig, sondern täglich Millionen von Menschen mit der Bahn befördern will, kann froh sein, wenn die zu Befördernden über einen mentalen Kollektivismus verfügen. Der Bahnhof von Suzhou gleicht einem modernen Flughafen. Große Eingangshalle, riesige Anzeigetafeln, Sicherheitschecks. Dann warten, bis man zu einem Gate aufgerufen wird. Die Bahnsteige sind menschenleer, bis man in der eigenen Kohorte mit Zug-, Waggon- und Platznummer eingelassen wird. Der Warteplatz auf dem Bahnsteig ist markiert. Punkt- und zeitgenau hält dort der Zug, für das Aus- und Einsteigen sind insgesamt zwei Minuten vorgesehen, die ausreichend sind. Alles ist sauber und gepflegt und alle verhalten sich so, wie sie es auch für sich erwarten. Angesichts derartiger Erfahrungen kommt dann doch der Gedanke auf, dass der ungezügelte Individualismus zivilisatorische Grenzen aufweist. Quindao liegt am Meer, zumindest im April ist es sehr angenehm, mit einer kühlenden Brise. Der immer wieder beschworene deutsche Geist ist bis auf das Tsingdao-Bier und architektonische Residuen längst verflogen. China geht ein hohes Tempo und nimmt sich nicht mehr die Zeit, den erlittenen Kolonialismus auch noch zu würdigen.
23.04.2025, Quindao
Heute in der Alt- und in der Neustadt gewesen. Erstere ist architektonisch vom deutschen Kolonialismus geprägt, letztere vom modernen China mit dem siebtgrößten Handelshafen der Welt. Die Neustadt gefällt mir besser und ich bin nicht hierher gekommen, um mir die Lebensweise deutscher Kolonialherren zu vergegenwärtigen. Tsingdao ist heute ein weltweit erfolgreiches staatliches Unternehmen und nur deshalb hat mir das Bier geschmeckt. Am Strand Nr. 2 und dessen Promenade in der Neustadt flaniert das zeitgenössische China, fast so, wie die vier Sterne auf der Nationalfahne, die sich um den einen großen, der die Partei symbolisiert, ranken: Arbeiter, Bauern, Intellektuelle und Soldaten. Teilweise so, wie beschrieben, und teilweise als mondäne Jeunesse, die allerdings dem durch Smartphones getriggerten, weltweiten Trend einer narzisstischen Sucht nach Selbstdarstellung folgt. Auch hier, wie zuhause, fühle ich mich mehr zu denen hingezogen, deren Leben aus Kampf und Anstrengung besteht. Aus ihren Gesichtern lugt immer ein kollektives Wissen um das Dasein und die schlafwandlerische Fähigkeit, zu erkennen, wer dazu gehört und wer nicht. Diejenigen von der lauen, elitären, verlogenen und konsumistischen Sorte sind mir hier allerdings in den zugegebenermaßen wenigen Tagen noch nicht untergekommen. Übrigens: Skepsis oder Ressentiments uns gegenüber auch nicht!
24.04.2025, Qufu
Der Urheilige der chinesischen Weltsicht, Konfuzius, hat hier seine geistigen Übungsräume, sein Domizil und eine wunderbare Parkanlage hinterlassen. Die Art stereotyper Vermarktung nähme dem Ort die Aura, wären da nicht unzählige Schulklassen, die mit ihrem Leben für die Kontinuität einer nationalen Identität bürgten. Wer die Universalfragen der menschlichen Existenz von der Pike auf zu bearbeiten lernt, besitzt einen Kompass, der über Epochen hinausgeht. Es fällt immer wieder auf, dass man sich hier ein langes Leben wünscht. Viele Tees, Symbole und Ingredienzien sollen dafür bürgen. Es ist Spekulation, aber ich denke, dass damit nicht das Individuum, sondern das Kollektiv und seine Tradition gemeint ist. Wäre es ein Wunsch im Sinne des westlichen Individualismus, erschiene vieles als Hokuspokus. Im Sinne des Kollektivs und der Tradition besticht es.
25.04.2025, Qufu
Von Qufu ist es nicht weit zum Taishan Berg. Letzterer überzeugt weniger durch seine Höhe (1500 Meter) als durch den Ruf, der heiligste aller Berge Chinas zu sein. Es wird erzählt, dass ihn jeder gute Chinese einmal im Leben bestiegen haben sollte, und zwar über die exakt 6298 Stufen, die bis zur Bergspitze führen. Tatsächlich waren viele Menschen dabei zu beobachten, obwohl man es sich auch leichter machen kann und eine österreichisch-schweizerische Gondel bereit steht. Mit ihr geht es schnell und geräuschlos hoch und man hat, sobald ausgestiegen, nur noch einige hundert Stufen zu absolvieren. Tausende sind unterwegs, wie immer unter großem Spektakel. Was hier wieder auffällt ist, wie bunt und heterogen diese Gesellschaft ist: ethnisch, sozial, regional. Wer das von der eurozentristischen Politik so gerne benutzte Attribut des Diktatorischen hier im Verhalten der Menschen im öffentlichen Raum festmachen will, wird nicht fündig. Ganz im Gegenteil. Gegen die emotionale Festivität, die hier bei vielen Anlässen geboten wird, wirkt die heimische Bevölkerung wie eine graue, monomorphe Masse. Und bilde sich niemand ein, hier gäbe es keine Kritik und keinen Witz oder die Leute seien eben schlecht informiert. Jedes Gespräch erweist sich als Schatzkiste neuer Erkenntnis.
26.04.2025, Beijing
Beim Nähern mit dem rasanten Schnellzug lässt sich dennoch feststellen, dass Beijing, dem Namen nach die nördliche Hauptstadt (im Gegensatz zu Nanking, der südlichen), ringförmig gewachsen ist. Die Außenbezirke mit ihren futuristisch anmutenden Wolkenkratzerkolonien glichen ihren Kompagnons von Shanghai, Hangzhou oder Tainan. Sie gehen über in ältere Abschnitte niedergeschossiger Massenunterkünfte, bis sich die in allen Metropolen der Welt etablierte Business-Skyline herausschält. Und dennoch: im inneren Kreis der 23 Millionenstadt bietet sich auch ein Bild des einfachen, flachen, durch tausende von Radfahrern bevölkertes, auch europäisch vertrautes Arrangement. Beijing hat, neben allen Schattierungen megalomaner Komplexität, auch etwas sanft Urbanes, das zum Verweilen einlädt. Schon die ersten Begegnungen offenbaren einen charakterlichen Unterschied zu den bisher Angetroffenen. Die typischen Attribute des Hauptstädters kommen zum Vorschein: keck, selbstbewusst, aufgeweckt und Zungenladungen voller Ironie. Es scheint wie überall auf der Welt: Landeier werden hier nicht alt, es sei denn, sie lernen schnell. Und die Verbotene Stadt? Mehr als 100.000 Menschen aus dem ganzen Land Land drängen sich hier täglich, viele in historischer Kleidung, was mich zu dem Gedanken veranlasste, dass das Verständnis des historischen Materialismus gerade vielleicht einer imperialen Attitüde weicht. Nach den Schmähungen europäischer Kolonialismen und des japanischen Imperialismus wäre es wegen des eigenen Erstarkens durchaus erklärbar.
27.04.2025, Beijing
Historische Plätze besitzen ihre eigene Magie, auch wenn sie alle nur aus Stein sind. Erstens sind die Erzählungen, die im eigenen Kopf sind, maßgeblich dafür verantwortlich. Hier, am Tienanmen, einem der, wenn nicht gar der größte Platz im Herzen einer Millionenmetropole, rief Mao Ze Dong im Oktober 1949 die Volksrepublik China aus. Der nach chinesischer Geschichtsschreibung insgesamt gezählte Preis für die Befreiung von Kolonialismus und Imperialismus betrug 30 Millionen im aktiven Kampf Getöteter. Das Denkmal für sie steht mitten auf dem Tienanmen, was dokumentiert, wer nach chinesischem Verständnis der Hauptakteur der Geschichte ist. An den vier Seiten des Platzes stehen das Gebäude, von dem Mao aus die Republik ausrief, direkt gegenüber ist das Mao-Mausoleum und an den anderen beiden Seiten wird der Tienanmen vom Volkskongress und dem Nationalmuseum eingerahmt. Die zweite Dimension der Magie entsteht durch die Menschen, die sich auf dem Platz bewegen und ihn ihr Eigen nennen. Auf dem Tienanmen sind tatsächlich Wieder alle zu finden, die in der Nationalflagge aufgezählt sind. Parteimitglieder, Arbeiter, Bauern, Soldaten und Intellektuelle. In allen Schattierungen, in allen Altersgruppen. Und es besteht kein Zweifel: es ist ihr Platz! Und die andere Erzählung des Tienanmen ist die aus dem Jahr 1989. Da offenbarte sich die große Staatskrise dieser Volksrepublik, die sie fast zum Einsturz brachte. Tausende junger Menschen, vornehmlich Studenten, hatten den Platz in Beschlag genommen und brüskierten eine verknöcherte Kommunistische Partei mit der Forderung nach Demokratie. Panzer rollten schließlich an und schlugen den friedlichen Aufstand nieder. Die damalige Parteiführung vermutete auch amerikanische Regie. Es kam aber die große Stunde des Deng Hsiao Ping. Er leitete eine radikale Wende in der chinesischen Politik ein, weg von der zentralistischen Wirtschaftssteuerung, hin zu freiem Markt und Privateigentum. Daraus resultierte die atemberaubende Entwicklung des Landes hin zur Weltwirtschaftsmacht Nr. 1. Sollten die USA tatsächlich 1989 bei dem Tienanmen-Aufstand eine Rolle gespielt haben, dann legten sie dort die eigene Kugel in den Lauf. Heute, 36 Jahre nach dem Aufstand und 76 Jahre nach Ausrufung der Volksrepublik verfügt der Platz mehr denn je über große Magie. Das Absurde: sie speist sich aus der Normalität, mit der die aktuelle chinesische Gesellschaft über ihr öffentliches Eigentum verfügt.
28.04.2025, Beijing
Shanghai, Hangzhou, Suzhou, Qindao, Qufu und Beijing in zwölf Nächten – wer aus diesem Sturzflug in ein kleines, aber bedeutendes Segment Chinas ein Bild erwartet, das die Komplexität des Landes erfasst, leidet an maßloser Selbstüberschätzung. Was in dem epistemologischen Raster hängen bleibt, sind: gigantische Dimensionen, großartige logistische Leistungen, technologische Innovation, ein flächendeckendes Aufforstungsprogramm sondergleichen, Investitionen in den öffentlichen Raum, Disziplin und Organisation, große Diversität, und viel Freude. Aber auch: große Unterschiede zwischen Arm und Reich, zu erwartende Engpässe bei Wasser und Luft, wachsender Konsumismus, demographische Krisen. Überall und bei vielen Gelegenheiten wird an den Conduct zivilisatorischen Verhaltens appelliert. Ab einem bestimmten Punkt wird aus dem Gewinn eine Rendite des Verfalls. Jetzt nicht, aber irgendwann. Meine Prognose, trotz ihrer eingestandenen Relativität: China ist in den nächsten Jahrzehnten globaler Protagonist. Wir leben bereits im chinesischen Zeitalter.
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