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Manuel, Toni und Thomas

Oft ist es so, dass die Erinnerung an den Glücksmoment oder das Trauma bleibt. Im Gegensatz zu den vielen Gründen, die zu dem einen oder anderen geführt haben. Momentan leben wir hier in einer Zeit, in der man die Analyse dessen, was geschehen ist, sogar regelrecht untersagt. Wer sich im Nachhinein an die Aufschlüsselung von einschneidenden Begebenheiten macht, erhöht das Risiko, der geltenden Erzählung den Boden zu entziehen. Selbstverständlich existiert kein gesetzliches Verbot. Stattdessen steht eine ganze Armee von Billigschreibern, Moderationsfälschern und Schlechtrednern bereit, um es den Delinquenten medial zu besorgen.

Dessen ungeachtet sei es erlaubt, sich dennoch einem Thema zuzuwenden, das im momentanen Kriegsrausch kaum Beachtung findet, aber einiges enthält, worüber nachgedacht werden sollte. Es ist, und nun erschrecken Sie nicht: der Rücktritt Manuel Neuers aus der Nationalmannschaft. Ich will es erklären.

Am Vorabend des Finales der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien traf ein deutsches Fernsehteam den ehemaligen argentinischen Nationaltrainer César Luis Menotti, seinerseits einer der profundesten Fußballphilosophen seiner Zeit, um in einem Café in Buenos Aires mit ihm über das bevorstehende Spiel zwischen Argentinien und Deutschland zu sprechen. Auf die Frage, was an der deutschen Mannschaft besonders sei, nannte er drei Namen: Manuel Neuer, der mit seinem Spiel die Rolle des Torwarts neu definiert habe, Toni Kroos, der dem Spiel wie eine Präzisionsmaschine den Takt vorgäbe und Thomas Müller, der agiere wie ein Straßenfußballer.

Mit Manuel Neuer hat sich nun in diesem Jahr der dritte in dieser Aufzählung aus der Nationalmannschaft für immer verabschiedet. Und nun, zehn Jahre später, wird es darum gehen, das Spiel von Grund auf neu zu konzipieren. Was sehr spät nach dem Erfolg ist, aber, auch das gehört zu den Geschichten, die Menschen schreiben, nach großen Erfolgen meinen sie, es könne immer so weiter gehen und sie versäumen es, rechtzeitig die Weichen neu zu stellen.

In Bezug auf das andere, das zivile Leben und das Wirken von Institutionen, sind die drei jedoch nach wie vor eine wunderbare Inspiration. Übersetzt in die Organisationsentwicklung reden wir von einem Konzept, in dem Rollen neu definiert, Abläufe präzise gestaltet und Lösungen mit dem praktischen Verstand der Straße gefunden werden können. Das klingt nicht nur inspirierend, sondern es ist auch machbar und erfolgversprechend. Und es drängt sich die Frage auf, warum derartige Erkenntnisse aus tatsächlichen Erfolgsgeschichten nur sehr selten einen größeren Wirkungsgrad haben.

Selbstverständlich haben die drei diese Geschichte mit dem Erreichen des Weltmeistertitels nicht allein geschrieben. Dazu gehörten auch die drei TTT. Toleranz, wenn man sich die Zusammensetzung der Mannschaft ansieht. Technologie, wenn man sich die Methoden anschaut, mit denen die Gegner analysiert wurden. Und Talent, wenn man sich die Fertigkeiten und Charaktere aller beteiligten Spieler anschaut. Auch das ist ein Lehrstück für die Organisationsentwicklung. Man muss nur aus dem reinen Emotionsmodus herauskommen.

Da Manuel Neuer der letzte der drei von César Luis Menotti Genannten ist, der sich nun verabschiedet, sei ihm auch noch eine Einschätzung als Würdigung mitgegeben: Nach dem Russen Lew Jaschin, der als der große Innovator der Torwartrolle im 20. Jahrhundert bezeichnet wurde, ist Manuel Neuer sicherlich der Größte.

Wie immer: Aus dem Fußball lässt sich vieles lesen, was auch im „richtigen“ Leben von Bedeutung ist.

EM: Furia Roja, eine Blaupause für gesellschaftliches Gelingen?

Trotz, oder wegen des Tobens in unserer Welt, über das wir von schlechten Menschen, die nichts können, unterrichtet und auf bestimmte Meinungen festgelegt werden sollen, scheint es sinnvoll, zu warten, bis der Blutdruck etwas abgesunken ist und die Ratio wieder die Oberhand gewonnen hat. Eine Übung dafür kann ein kleines Resümee der Fußballeuropameisterschaft sein. Ich hatte an dieser Stelle bereits ausgeführt, dass zu den Signifikanzen dieses Turniers zählte, dass die Etablierten mit den großen Namen sich vor allem auf die Verteidigung fokussiert haben und die Erfolge im Angriff zumeist Produkte des Zufalls waren. Und es war aufgefallen, wie viele Eigentore geschossen wurden. Man könnte es auch anders lesen: da, wo ökonomische Potenz vorhanden war, konzentrierte man sich aufs Verwalten, strategisch waren manche Entscheidungen grottenfalsch und begeistern konnten diese Einheiten zumeist nicht einmal mehr ihren eigenen Anhang.

Positive Beispiele für so etwas wie Aufbruchstimmung und eine Regie, die sich aus einer mentalen Stärke ableitete, gab es auch. Wie immer, in dieser materiellen Welt, ging einem bei der Betrachtung das Herz auf. Dass letztendlich dann doch die kalte Ration phantasieloser Mächte für deren Ausscheiden sorgte, gehört zu den Gesetzmäßigkeiten des Machtspiels.

Eine Mannschaft, die sowohl mit Potenz, als auch mit Phantasie und mentaler Stärke dabei war, hat letztendlich das Turnier gewonnen. Ohne Beigeschmack und ohne Zweifel. Auch wenn von deutscher Seite Missklänge zu hören waren, die sich aus der Enttäuschung speisten, nah, ganz nah an einer Überraschung gewesen zu sein: den einen Tick war das Team der Furia Roja weiter.

Und betrachtet man dieses Team, das alle Spiele gewonnen hat, dann lässt sich folgendes resümieren: der Spirit schien sehr gut gewesen zu sein. Es verfügte über eine altersmäßige Normalverteidigung, d.h. ältere, erfahrene, mit allen Wassern gewaschene und blutunge, talentierte, kreative Spieler griffen ineinander. Sie beherrschten unzählige Spielsysteme und waren groß in ihrer Variation. Und nur eine Chance zu brauchen, um eben ein Tor zu erzielen, zeugt von einer kollektiven Gewissheit, wann die Situation da ist. Da wurde nichts von einem System oder einer Ideologie dominiert, sondern situativ entschieden, und dann das Instrumentarium gewählt, das am vielversprechendsten zum Erfolg führt. Ein hoher Grad von Berechnung gab sich die Hand mit individueller Freiheit und Kreativität.

Es empfiehlt sich, diese systemische Konstellation auf die Politik zu übertragen. Vieles, von dem, was wir täglich erleben, deckt sich mit dem Auftreten der Etablierten in diesem Turnier. Durchaus potent, aber ideenlos und zumeist einer Philosophie auf Gedeih und Verderb verschrieben. Das Erfolgsmodell sah anders aus: Eine Symbiose aus juveniler Vitalität, pragmatischer Vernunft und dem Blick alter Füchse, eine klar umrissene und eindeutige Strategie, hohe technische Präzision und Eigenverantwortung, kollektive Pflichten und individuelle Freiheiten und ein Spirit, der die Erkenntnis verkörpert, dass nur das Ineinandergreifen der Einzelteile zum Erfolg führen kann.

Das Erfolgsmodell bleibt auch über das Turnier bestehen. Die täglich erlebte Politik ist davon weit entfernt. Auch in dem Land, aus dem die neuen Europameister kommen. Aber der Fußball hat nun einmal die Impertinenz, auch ab und zu die Blaupause für gesellschaftliches Gelingen vorzuexerzieren. Das hat das spanische Team gemacht und dafür kann man dankbar sein. Vieles spricht dafür, dass das spanische Team weiterhin auf Erfolgskurs bleiben wird. Alles andere ist eine Frage der gesellschaftlichen Umsetzung. Wie das ausgehen wird? Zu dieser Prognose lasse ich mich heute nicht hinreißen!

Nur Fußball? Klasse und Verein!

Gerade heute fiel mir, aus aktuellem Anlass, wie es so oft heißt, wieder eine Szene ein, die ich vor vielen Jahren erlebte, quasi am Beginn meiner Reise durchs Leben. Als ich mich von Freunden und Bekannten verabschiedete, um zunächst einmal zu studieren und nicht im benachbarten Umland, sondern weiter weg, nahm mich ein Bergmann, der noch unter Tage arbeitete, beiseite, sah mir tief in die Augen und sagte: „Egal, wohin du gehst, egal was du machst, eines darfst du nicht tun: du darfst nie deine Klasse und nie deinen Verein verraten!“ Ich wusste sofort, was er meinte, denn der Klassenbegriff war im damaligen Ruhrgebiet noch sehr eindeutig und der Verein war eng mit ihm verbunden, denn der Fußball, der dort gespielt wurde, hatte sehr viel mit dem Alltag dieser Klasse zu tun. Dass das mit der Klasse in meinem Fall nicht so eindeutig war, wusste ich bereits zum Zeitpunkt des Rates. Ich deutete es so, dass die Menschen, das Milieu, in dem ich aufgewachsen war, so etwas darstellten wie meine Klasse. Dazu gehörten Bergleute, kleine Kaufleute, Bauern und auch der eine oder andere skurrile Intellektuelle. Und mein Verein, den hatte ich schon, und der entsprach 1:1 den Vorstellungen des Bergmanns.

Nun, mein Leben verlief bis dato sehr abwechslungsreich und ich erlebte viele unterschiedliche soziale Milieus auf verschiedenen Kontinenten und auch noch ganz andere Vereine als die, die ich in meiner Region kennengelernt hatte. Nicht, dass ich den damaligen Rat des Bergmanns mir so zu Herzen genommen hätte, wie er es mir nahegelegt hatte. Das musste ich nämlich gar nicht, denn irgendwie gehörte die Devise sowieso zu meinem Kompass. Die Menschen, die mir alles gegeben hatten, um das werden zu können, was ich wollte, die konnte und wollte ich nie vergessen und der Verein, mit dem ich groß geworden war, der hatte mich, auch wenn ich mir das anders gewünscht hätte, sehr intensiv gelehrt, wie man mit Niederlagen umgeht und wann Loyalität wichtiger ist als alles andere. 

Nun, das ist kein Plädoyer für ständiges Verharren, für die Negation des Wandels und eine seichte Romantik. Nein. Es geht um ein Prinzip. Es ist das Prinzip, das sich aus einer gewissen Dankbarkeit und Zugehörigkeit speist und sich dem Ansinnen flüchtiger Opportunität verweigert.  Der Geist, der dem damaligen Ruhrgebiet und seinen Formulierungen von Moral entsprach, speiste sich aus sehr konkreten Vorstellungen von Verlässlichkeit. Keine Frage, wenn die nicht gegeben war, dann spielten die da unten, unter Tage, mit ihrem Leben. Im Ruhrgebiet durftest du alles machen, wenn du nur verlässlich warst. Und keine deiner Taten glänzte, mochten sie auch noch so gekonnt sein, wenn sie den Beigeschmack der Unzuverlässigkeit hatten.

Ich selbst denke noch heute, Jahrzehnte nach diesem Rat des Bergmanns, immer wieder an ihn. Die Frage, die sein Rat aufwirft, hat mich in unzähligen Lebenssituationen immer wieder begleitet. Ist die Entscheidung, die du jetzt treffen musst, so etwas wie ein Verrat an denen und dem,  was dich geprägt hat? Ich, für meinen bescheidenen Teil, habe mich nie verbiegen müssen. Ich habe diesen Verrat nie begangen, obwohl ich vieles in meinem Leben verändern musste, obwohl ich mit Menschen und Organisationen gebrochen habe und mit so mancher Rebellion nicht nur angenehme Situationen hinterlassen habe. Aber meine Klasse und mein Verein? Mit denen bin ich immer noch im Reinen!