Das Adjektiv „vorlaut“ wurde in früheren Tagen zumeist zur Bewertung von kindlichem Verhalten benutzt. Immer dann, wenn Kinder und Heranwachsende sich in einer ihnen als ungebührlich empfundenen Weise zu Themen, von denen Erwachsende glaubten, dass die sich Äußernden noch nicht die Kompetenz dazu hatten, zu Wort meldeten, fiel der Satz: Sei nicht so vorlaut. Er galt als Mahnung, zu schweigen. Zumeist folgte dann die Aufforderung, anstatt sich in zu hohe Sphären einzumischen, doch besser das eigene Zimmer aufzuräumen oder die Hausaufgaben zu machen.
Ja, die Zeiten haben sich geändert und Kinder wie Heranwachsende werden heute nur noch selten als „vorlaut“ kategorisiert. Manchmal sieht es sogar so aus, als würde diese Altersgruppe geradezu dazu aufgefordert, sich zu Themen und Zusammenhängen zu äußern, die weit über ihren bisherigen Erfahrungshorizont hinausreichen. Das Motiv dazu scheint edel, weil dadurch ein Verhältnis von Vollwertigkeit und Augenhöhe signalisiert wird. Ob das bei der Sozialisation hilfreich ist, sei dahingestellt. Denn wenn sich im Bewusstsein festsetzt, dass es durchaus gewünscht und legitim ist, sich zu Verhältnissen und Erscheinungen zu äußern, von denen man wenig weiß oder zu denen man nichts beitragen kann, dann spricht vieles dafür, dass es auch geschieht. Und es sieht so aus, dass dieser Impetus der Erziehung zu einer weit verbreiteten Verhaltensweise führen wird, die mit dem Adjektiv „vorlaut“ gut beschrieben werden kann. Welche fachterminologischen Ausdrücke dafür gefunden werden, ist noch nicht ausgemacht. Auf jeden Fall wird es besser klingen als „vorlaut“. Vielleicht, negativ, kommt so etwas heraus wie „prä-pubertäre Kompetenzanmaßung“ oder, positiv, „couragiertes Üben an komplexen Lernzusammenhängen“. Wer weiß.
Abgesehen von Kindern und Jugendlichen existierten und existieren durchaus auch Erwachsene, denen das hier behandelte Adjektiv durchaus treffend zugeschrieben werden kann. Das Phänomen ist analog. Wenn sich diese Peer Group zu Themen und Dingen äußert, die über das eigene Verständnis und die eigenen Möglichkeiten hinausreichen, dann handelt es sich um vorlautes Gebaren. Und hört man sich die täglichen Nachrichten an, dann bekommt man den Eindruck, dass die dort fortlaufend erwähnten Personen sich zu Dingen und Zusammenhängen äußern, mit denen sie nichts oder wenig zu tun haben, auf die sie keinen Einfluss haben und an deren Entwicklung sie nichts beeinflussen können. Beim täglichen genauen Hinhören zum Beispiel der Nachrichten erhärtet sich sogar die Befürchtung, dass wir es hier mit einem Massenphänomen zu tun haben. Das Verhalten derer, die da eifrig zitiert werden, kann treffend mit Umschreibungen wie „vorlaut“, „altklug“, „aufschneiderisch“, „anmaßend“ und „wichtigtuerisch“ beschrieben werden.
Das extreme Beispiel liefern deutsche Politiker, die sich zu innenpolitisch wichtigen Themen und internationalen Konflikten äußern, auf die sie keinerlei Einfluss haben. Sie stellen Forderungen auf, an deren Realisierung sie nicht teilhaben werden und tun dennoch ihre Meinung kund, obwohl sie niemand danach gefragt hat. Im Volksmund hat sich dafür eine Redewendung aus dem 17. Jahrhundert festgesetzt, die da heißt „überall den Senf dazugeben“.
Wenn sich derartige Verhaltensweisen als Massenphänomen erweisen, dann erweckt eine Gesellschaft, in der sich so etwas als Normalzustand darstellt, seien wir einmal so ehrlich, wie ein überforderter Erziehungsberechtigter. Denn die Gesellschaft hat die Mandatsträger zu erziehen. Und, so wie es sich darstellt, wäre eine harte Hand alles andere als unangebracht. Fast möchte man den vorlauten Protagonisten mit strenger Stimme raten, das eigene Zimmer aufzuräumen und schleunigst die Hausaufgaben zu machen.
