6. Aufpassen!
Die grenzenlose Freude der Deutschen über die Öffnung der nationalen Binnengrenze hat den Verstand nicht außer Kraft gesetzt. Auf den vielen Kundgebungen in Berlin erhielten die Hegemonialpropagandisten gehörige Absagen. Sprüche wie der Sozialismus sei tot, Deutschland sei stolz und die Freiheit habe gesiegt, gingen in gellenden Pfeifkonzerten unter. Die Vertreter des militanten Finanzkapitals träumen von der Exploitation billiger, aber hochqualifizierter Arbeitskräfte, vom Kauf der DDR, von der strategischen Verbesserung imperialistischer Weltmarktpläne. Diese Phantasien sind nicht unterstellt, sie sind täglich im Originalton zu hören. Es ist nicht einmal mehr ein Geflüster, das durch die Etagen der bourgeoisen Nimmersatts geht, es hat sich zu lautem Gebrüll entwickelt. Obwohl die finanzkapitalistische Kamarilla auf den Veranstaltungen in Berlin isoliert blieb, darf sich keine für die tatsächlich historische Chance tödliche Nonchalance Raum verschaffen.
Die Bewegung von unten, wie das, was sich in der DDR als Opposition zur SED-Oligarchie entwickelt hat, zur Zeit noch am besten bezeichnet werden kann, formuliert unisono – mit Ausnahme der liberal-demokratischen Kompradoren – die Problematik folgendermaßen:
Die Frage der Wiedervereinigung wird von westdeutschen Interessengruppen lanciert. Sie betrifft nicht unsere momentanen Probleme und steht nicht auf der Tagesordnung. Sie würde unter den heutigen Voraussetzungen die Unterjochung bzw. die Liquidierung der DDR mit allen Implikationen bedeuten.
Durch unkritische Kreditierungen von Joint-Venture-Projekten und der gleichzeitigen Wiedereinführung von Privateigentum an Produktionsmitteln würde eine Art neuer ursprünglicher Akkumulation forciert, die zur Folge hätte, dass die SED-Nomenklatura, die noch über die Direktionsrechte verfügt, unter neuen, nicht erstrebenswerten Rechtsverhältnissen ihr Unwesen treibt.
Positiv formuliert, muss die Demokratie durch Neuwahlen gestärkt werden. Abwählbarkeit von Funktionsträgern muss als Kontrollinstrument des Volkes als Selbstverständlichkeit etabliert werden.
Die Solidarität der Westdeutschen muss darin bestehen, a) die demokratische Bewegung der DDR praktisch-instrumentell zu unterstützen und b) dafür zu sorgen, dass Einmischungen seitens der reaktionären Schwarz-Rot-Gold-Fraktion unterbleiben. Dies kann zum Beispiel bedeuten, in der Bundesrepublik dafür einzutreten, bedingungslose Finanzierungsmodelle zu erstellen, deren Realisierung durch Cutten des Militärhaushaltes gewährleistet wird. Derartige Nagelproben werden sehr schnell die Spreu vom Weizen trennen und demonstrieren, wem die Sichel um den Hals zu legen ist, um ihn vor eigenen Untaten zu bewahren.

Pingback: Ostenmauer – 64. Herbst 1989. 6. Aufpassen! | per5pektivenwechsel