„Einmal durchbrechen wir selbst die dicksten Mauern…“ Oskar Maria Graf
Die Meldung brannte wie eine Stichflamme durch die Hirne der Berliner. Nach achtundzwanzig langen Jahren, seit dem August 1961, sollte es wieder möglich sein, die tödliche Zerrissenheit der vitalsten europäischen Metropole ohne große Probleme überwinden zu können. Die Regierung der DDR verfügte die Reisefreiheit ohne Visumszwang. Was in ganz Deutschland wohl begrüßt wurde, entbrannte in Berlin zum Urschrei. Die geteilte, geschundene und oft verwünschte Stadt, das westliche Babylon der Moderne, das östliche Mekka des längst vermoderten Preussens, die lebendigste und krasseste aller deutschen Städte, feierte ein exzentrisches Wiedersehen mit sich selbst.
Hunderttausende migrierten von Berlin/Ost nach Berlin/West und umgekehrt. Auf dem gesichtslosen aber geschichtsträchtigen Alexanderplatz wurde Tango getanzt, der Kurfürstendamm erlebte Stunden wie die New Yorker Fifth Avenue in der Nacht zum 8. Mai 1945. Die Menschen fielen sich in die Arme, das Herz Berlins war seiner Rhythmusstörungen ledig, im gleichen Takt sprang das Leben auf und ab.
Trotz der Freude, der Begeisterung, der Träume und der Erleichterung kam es nicht zum bewusstlosen Exzess, es wurde kein dammloses Besäufnis, es gab keine Gewalt. Schnell wurde klar, dass sich das politische Bewusstsein vor allem der Ostberliner auf einem für deutsche Verhältnisse hohen Niveau bewegte. Die politischen Formationen, die für die beschleunigte Bewegung in der als so rigide erachteten DDR verantwortlich zeichnen, haben bis dato erfolgreich verhindert, dass die Despotie Ost gegen den Fleischwolf West kritiklos ausgewechselt wurde. Die Perspektive wird zum Schrecken der Apologeten des westlichen Verwertungssystems nicht in Richtung Restauration des Kapitalismus entwickelt, sondern auf eine Innovation der sozialistischen Gesellschaft abgestimmt.
Das Fest, welches in der letzten Nacht in Berlin gefeiert wurde, war kein revanchistisches Bacchanal. Die Enkel Rosa Luxemburgs reichten sich die Hand. Was sie dabei wem schworen, ist völlig egal. Jedenfalls nicht den falschen. Berlin darf feiern. Zum Kämpfen bleibt noch Zeit genug. Salut!

Oje. Der überholteste der 5 Teile aus den Tagen des Herbstes einer Menschheitsidee, die gerade erfror.
Tja – und der Rosa Luxemburgfetisch ist auch dabei…
Aber: Mir erging es damals ähnlich: Jeder träumte seinen Wende-Traum. Und wir in die Maurzeitgeborenen konnten uns zu dem Zeitpunkt eine Wiedervereinigung gar nicht vorstellen.
Also „wir oben“. Die „unten“ schon. Die dachten simpler oder gar nicht. – Und die erwiesen sich als „mehr“ und der Putschversuch in Moskau 1991 zeigte, dass dieser schnelle übers Knie gebrochene Weg dann wohl doch -irgendwie- der richtige gewesen war.
Denn der Putsch hätte auch gelingen können und die Mauer wäre 1991 noch reparabel gewesen.
Die Spaltung war ein Graus. Das Jahr 1990 ein Märchenlandmoment. Die Realität kehrte nach dem 3. Oktober 1990 zurück. Willkürlich festgelegtes Datum. Völlige Mundtotmachung des Ostens. Rettung der Macht für Kohl, dank einer Bundestagswahl im Wendetaumel 1991, dann Abbau Ost, eine Verschönerung, die aber auch eine Deindustrialisierung war, die Roßkur, über die mancher heute noch kotzt…