4. Der Osten
Die Erosion des von Stalin geschaffenen monolithischen Blockes hat einiges in Bewegung gebracht. Die Sowjetunion befindet sich in einer mehr als dynamischen Phase ihrer Entwicklung. Die Statik der russischen Hegemonie gegenüber den Völkern der Sowjetunion ist ins Wanken geraten. Die durch den Stalinismus entmachteten Räte sind dabei, sich zu reorganisieren. Die Frage nach einer Demokratisierung der Direktionsrechte steht auf dem Programm. Mehrheiten sollen wieder durch Debatten und freie Wahlen zustande kommen. Der Obskurantismus einer einzigartig zynischen Geschichtsschreibung steht öffentlich am Pranger. Zum ersten Mal werden die ökologischen Verbrechen einer gigantomanischen Technokratie thematisiert. Die intelligenteste Gesellschaftskritik der bolschewistischen Revolution erhält durch die Rehabilitation Bucharins eine neue Chance. Dem imperialen Expansionsstreben ist vorerst Einhalt geboten.
Ob diese Entwicklung in Richtung sozialer Befreiung und Selbstbestimmung geht, ist noch lange nicht entschieden. Noch lauert die Kaste der drohnenhaften Verwaltungsbeamten auf den letalen Schlag gegen die Innovationsbewegung. Die Politik Gorbatschows ist sicher auch ein vehementer Versuch, zu retten, was überhaupt noch zu retten ist. Aber allein die Tatsache der Ermutigung – ob gewollt oder ungewollt – zur Revolte ist ein positiv zu bewertendes Faktum.
Es muss in Moskau als äußerst schmerzhaft empfunden werden, aber es ist die notwendige Konsequenz der historischen Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR, dass letztere sich als Zauberlehrling der Repression entpuppt und die entfesselten Kräfte der Zerstörung kaum noch gebändigt werden können. Auf die SED-Führung braucht niemand mehr zu hoffen. Ihrem momentanen Angebot an die Opposition, einen konstruktiven Dialog zu führen, haftet zu sehr der Geruch opportunistischen Machtstrebens an. Auf die abgetakelte Vernunft, die westliche Medien immer wieder einfordern, braucht niemand mehr zu hoffen. Schon gar nicht bei der SED. Wie sooft in Situationen rascher emanzipativer Veränderung, lastet auf der spontanen Bewegung mehr Verantwortung, als diese aufgrund ihrer Erfahrung einlösen kann. Wenn die so genannte westdeutsche Linke, die sich immer mehr als Konglomerat misanthropischer Apathie entpuppt, nichts anderes zustande bringt, als in der berühmten ersten Reihe zu sitzen und dümmlich den Dingen hinterher zu glotzen, wäre es doch konsequent, sich dafür einzusetzen, mit Erich in die gleiche Familiengruft eingelassen zu werden.

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Sehr schöner Schlusssatz.