Ostenmauer – 61. Herbst 1989 – 3. Der Westen

3. Der Westen

An den Bonner Rheinauen und in den Chefetagen der Industrie wird kräftig spekuliert. Die Regierungsparteien versuchen, die Auswanderungswelle aus der DDR für ihre Systempropaganda zu nutzen, in der Industrie kalkulieren nicht wenige mit einer Art fünfter Kolonne im Arbeitnehmerlager. Des Weiteren wird versucht, mehrere Klassifizierungen von in die Bundesrepublik Einreisenden zu schaffen. Divide et impera! 

Trotz der vollmundigen Erklärungen aus der Kohl GmbH und Co. KG. sticht die Unsicherheit ins Auge, mit der die West-Sozialisation der ehemaligen DDR-Bewohner beobachtet wird. Scharfe Propagandisten der vor allem von der FDP angestrebten Revitalisierung des Manchester-Kapitalismus finden sich unter den Neuankömmlingen nur selten. Dass es in der Bundesrepublik über die Erscheinungen von Freude und Eierkuchen hinaus auch noch Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Menschenhandel etc. gibt, wird sehr schnell registriert. Ob das perfide Kalkül aufgeht, aus den neuen Bundesrepublikanern Sturmtrupps gegen die Gewerkschaften zu formieren, hängt unter anderem davon ab, wie die organisierte Arbeitnehmerschaft ihnen gegenüber operiert. Politische Offensive ist gefragt.

Im internationalen politischen Dominospielchen sieht die Sache für die imperialen Hardliner gar nicht so rosig aus. Hinter dem augenblicklichen Propagandabonus verbirgt sich nämlich die Gefahr, dass eine starke Protestbewegung in der DDR sich mit ihren Forderungen, die bis dato hier kaum jemand kennt, im Westen Gehör verschafft. Dann kommt nämlich heraus, dass die ökonomischen Verhältnisse der DDR durch politische Demokratisierung effektiviert, die Grundrechte des Individuums verbrieft und das Koalitionsrecht garantiert werden sollen und es keinesfalls um die Fusion ganz Deutschlands unter der Ägide des Kapitalismus geht. Und es bestünde vielleicht die begründete Gefahr, dass – um einmal im Bonner Jargon zu reden – eine solche Entwicklung in der DDR als ein Faszinosum in den Westen strahlte. Außerdem verlören die militaristischen Planspiele der Haardthöhe noch mehr an Attraktivität als es schon der Fall ist. Es brächen schlechte Zeiten für großdeutsche Träume an.

In dieser Situation, die ja global gesehen die Möglichkeit immenser Veränderungen im Ost-West-Gefüge denkbar macht, zeigt sich die Phantasie- und Konzeptionslosigkeit im westlichen Lager. Und darin besteht die Affinität zur welken Intellektualität der SED-Führung. 

Herbst 1989 – 3. Der Westen

2 Gedanken zu „Ostenmauer – 61. Herbst 1989 – 3. Der Westen

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  2. Avatar von BludgeonBludgeon

    Damals in Terra Inkognita hinein gedacht – ja. Es gab so einige, die den Sozialismus (zunächst noch) für reformierbar hielten. Ich eingeschlossen. Der Gorbatschoweffekt, der zwar selbst in Russland nicht funktionierte, aber verführerisch schön klang, wenn man davon im Sputnik las.
    Sobald man jedoch länger als 90 Minuten Kontakt mit Bürgerrechtlern der ersten Reihe hatte, regte sich zumindest bei mir das skeptische Unterbewusstsein: DIE sollen etwas retten?
    Nein, diese Strahlemanneffekte einer Konförderation (wie das Lafontaine-Zauberwort damals hieß) hätte zu üblen Verwerfungen geführt. Bei gewährter Reisefreiheit, wären zu wenig Idealisten übriggeblieben, die im Osten eine Durststrecke des Umstrukturierens ausgehalten hätten. Die Klugen wären gegangen. Höhere Löhne, besseres Warenangebot, damals noch besserer Service…

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