Wie Nietzsche in Turin?

Wenn der intellektuelle Mob, egal welchem Lager er zuzurechnen ist, beginnt, einzelne Begebenheiten aus einem großen Zusammenhang zu reißen und sie als repräsentativ für denselben zu missbrauchen, dann entstehen Bilder, die Ignoranz und Vorurteile prägen. Eines der historisch bedeutungsvollsten ist jene Szene aus Turin im Januar 1889, als Friedrich Nietzsche beobachtete, wie ein Kutscher brutal auf sein Pferd einschlug. Nietzsche rannte daraufhin über die Straße, umarmte weinend den Hals des Tieres und brach schließlich zusammen. Es war das tatsächliche Ende des an der Syphilis erkrankten Mannes, der bis zu seinem Tod, der elf Jahre später eintrat, in geistiger Umnachtung in verschiedenen Psychiatrien oder privater Obhut verbrachte. 

Den drittklassigen Kolporteuren der Philosophie, die seine Schriften mit ihrem Missbrauch durch den aufkommenden Faschismus gleichsetzten, fiel daraufhin nichts Besseres ein, als aus einem vorgeblich den Machkult verehrenden Philosophen eine idiotische Memme zu machen. Dass Nietzsches Schriften mehr boten als die lächerliche Rezeption durch die nationalsozialistischen Ideologen, blieb der Masse verborgen. Was hängen blieb, war der Rat, die Peitsche nicht zu vergessen, wenn man zum Weibe geht und eben diese Episode des Turiner Zusammenbruchs. Dass eine ganze Generation den Zarathustra als ein Befreiungsschlag gegen den Kleingeist, die Bevormundung und die Denkverbote durch Tabus begriff und sich auf den Weg machte, emanzipatorische Lebenswelten zu entwerfen, fiel unter den Tisch der Kolportage. 

Bücher wie Überlieferungen sind voll von solchen Geschichten. Sie belegen zumeist die alte Gewissheit, dass diejenigen, die in bestimmten historischen Phasen die Oberhand gewonnen haben, auch bestimmen, was in den Büchern steht. Oder, um es auf eine heutige Formulierung zu bringen: die Sieger oder Herrschenden schreiben die Geschichte. Und so ist es kein Wunder, dass momentan, in einem Prozess globaler Veränderungen, sehr unterschiedliche Darstellungen der jüngeren Geschichte kursieren. Dass man in den USA die Geschichte des II. Weltkrieges, des Kalten Krieges wie der Phase danach anders darstellt als in Russland, ist nur logisch. Und dass man in China im Falle Hongkongs oder Taiwans das anders sieht als in Großbritannien, den USA oder Japans ist ebenso folgerichtig wie die Sicht des heutigen Indiens auf seine eigene Vergangenheit. 

Die Diversität der Perspektiven hat etwas zu tun mit dem eigenen Erleben, mit den Siegern im eigenen Lager wie mit deren Interessen. Das ist kein Frevel. Das ist die Normalität. Zu denken, dass die eigene Sichtweise deckungsgleich mit der gesamten Welt ist, konnte man bei einem Alexander dem Großen, Dschingis Khan oder römischen Kaisern genauso beobachten wie bei britischen Königen oder einem Adolf Hitler. Sie dachten allesamt imperial. Und die imperiale Denkweise ist es, die gewaltsame Expansion und gewaltige Zerstörung nach sich zieht.

Und nun betrachten wir noch einmal, was derzeit vor sich geht. Die Reduktion auf die eigene Sichtweise und die Ausblendung der Interessen des Restes der Welt wird die gleichen Resultate zeitigen wie die Bilanz der erwähnten Herrscher. Mit der Einschränkung, dass denen, die derzeit in maßloser Überschätzung ihrer eigenen Potenziale das Weltmonopol beanspruchen, durchaus ein Ende blühen kann wie das des Friedrich Nietzsche in Turin. Wobei, auch das sei gesagt, sie diesem bis heute nicht das Wasser reichen können. 

Wie Nietzsche in Turin?

3 Gedanken zu „Wie Nietzsche in Turin?

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  2. Avatar von BludgeonBludgeon

    Hm. Es ist ein Trauerspiel, dass sich nicht herumspricht, was in den letzten Jahrzehnten der Nietzscheforschung zu Tage gefördert wurde:

    1. Es war NICHT die Syphilis – bereits der Vater Nietzsches starb recht jung in seinen 30ern an geplatzten Anyrismen im Hirn. Nietzsche selbst klagte über zunehmende Kopfschmerzen und abnehmende Sehfähigkeit lange VOR Turin und hinterließ Tagebuchnotizen, in denen er Vaters Ende bereits für sich ahnet. Auch existieren Fotos des totkranken Nietzsche ohne die typischen Geschwüre und Syphilislöcher in den Wangen.

    2. Der verderbliche Einfluss seiner Schwester spricht sich nicht herum; ihre Einflussnahme, Veränderung ganzer Textpassagen, Verfälschung von Briefen etc. verfängt einfach nicht. 2015 herum gab es diesbezüglich im Nietzsche-Haus Naumburg, also da, wo er seine letzte Lebensphase verdämmerte, und sich heute das Nietzsche-Archiv befindet, eine sehr gut konzipierte Ausstellung, die den Einfluss der Schwester in den Mittelpunkt rückte: Sie war einem prä-faschistischen Möchtegern-Kolonisator verfallen, mit ihm nach Südamerika gegangen, dort gescheitert und verwitwet zurückgekehrt. Als Nietzsche-Erbin und somit Nachlassverwalterin ließ sie sofort eine bereits in Arbeit befindliche Gesamtausgabe einstampfen und begann mit ihren „Korrekturen“.

    3. ist somit einigermaßen unklar, inwieweit Nietzsche-Verehrer nun wirklich Gedanken von Bruder oder Schwester feiern. Der Verfälschungsfaktor ist immens.

    4. Zitat von oben: ,,Dass eine ganze Generation den Zarathustra als ein Befreiungsschlag gegen den Kleingeist, die Bevormundung und die Denkverbote durch Tabus begriff und sich auf den Weg machte, emanzipatorische Lebenswelten zu entwerfen, fiel unter den Tisch der Kolportage. “ – Um es mit Stoppok zu singen: ,,Denk da nochma drübber naaaach…“ – Die Generation der Nietzsche-ianer des späten 19. Jhds verrannte sich in den „Geist von 1914“. Und später in noch schlimmeres. (Aber Schuld daran ist eben nicht Friedrich, sondern die Schwester.)

    1. Avatar von Gerhard MersmannGerhard Mersmann Autor

      Danke! Zu 1) die Diagnose Aneurysma war mir unbekannt, 2) und 3) d´accord, 4) meinte ich nicht die „Nietzscheaner“, sondern zahlreiche Vertreter der vor allem Münchner Intellektuellen, die nicht für den krieg waren und später die Räterepublik unterstützten bis hin zu Kommunen in Ascona, die neue Lebensformen ausprobierten und gerne den Zarathustra rezitierten. Prominente Quelle: Oskar Maria Graf, Wir sind Gefangene und Gelächter von außen.

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