Ein neuer Begriff macht die Runde. Und er scheint zumindest das zu beschreiben, was aus allen Winkeln der Gesellschaft beklagt wird. Dass man kaum noch wissen kann, was wahr und was gefälscht ist. Dass die Unterscheidung zwischen richtig und falsch sehr schwer fällt. Dass unablässig, ja pausenlos Katastrophennachrichten auf die Menschen einströmen. Dass es immer schwerer fällt, in kniffligen Fragen einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Dass jede Meinungsäußerung dazu führen kann, sich vor einem Tribunal zu befinden. Dass Menschen direkt kaum noch miteinander kommunizieren. Dass die Menschen, wie in einem Science Fiction der Vergangenheit, hinter den kleinformatigen Displays ihrer Smartphones durch die Straßen laufen und die Welt um sich herum nicht mehr wahrnehmen. Dass jeder, wie es so verräterisch heißt, in seiner eigenen Blase existiert und es kaum noch einen gesellschaftlichen Konsens gibt.
Bevor wir bei dem Begriff sind, noch eine andere Beobachtung. In den Vereinigten Staaten reüssiert zur Zeit ein Schulmodell, das unter dem Begriff des German Approach firmiert. Selbstverständlich eine Privatschule und sehr teuer. Was mit dem deutschen Weg beschrieben wird, ist das gute, alte Modell fester Klassenverbände, in denen unterschiedliche Leistungspotenziale den gleichen Stoff präsentiert bekommen. Die Fächer sind ebenso klassisch, es gibt feste Zeiten, zu denen alle anwesend sein müssen. Es gibt gemeinsame Unternehmungen und alles, was vermittelt wird, geschieht analog. Keine Smartphones, keine Computer.
Das Modell feiert große Erfolge, die Schülerinnen und Schüler sind zumeist die Kinder derer, die im Silicon Valley mit der Informationsindustrie ihr Geld verdient haben. Die Eltern, IT-Tycoone, beantworten die Frage, warum sie ihre Kinder ausgerechnet in eine solche Schule schicken, mit dem lapidarer Satz: Wir wissen ganz genau, was Algorithmen mit dem menschlichen Verstand anrichten können. Wir wollen, dass unsere Kinder selbstständiges Denken lernen und in der Lage sind, sich in einem sozial heterogenen Umfeld sicher bewegen können.
Der Begriff, der die Runde macht, ist der der Algokratie. Von der Wortschöpfung her beschreibt er nichts anderes als die Herrschaft der Algorithmen. In Bezug auf die tatsächliche Steuerung der Massen ist diese Definition zutreffend. Was die Architektur der Algorithmen anbetrifft, so könnte der falsche Eindruck entstehen, als handele es sich bei den Algorithmen und ihrer Herrschaft um etwas an sich, das unabhängig vom Willen bestimmter Menschen entsteht und selbstständig handelt. Letzteres ist nicht der Fall, die große Idee hinter den Algorithmen, wie sie auf die Individuen einströmen, ist letztendlich die methodische Form von Geschäftsideen. Sie sollen wirtschaftlichen Erfolg generieren oder politische Haltungen beeinflussen.
Hinter der Algokratie stehen in der Regel die Söldner von Oligarchen, Autokraten oder Konzernen, die nichts anderes wollen, als Dinge verkaufen und Haltungen generieren. Man möge sich also nicht dazu verleiten lassen, den Algorithmus an sich als eine Erscheinung zu fixieren, dem die große Verwirrung, Unordnung und letztendlich gesellschaftliche Krise zu verdanken ist. Die Algorithmen sind das neue, gesellschaftlich durchgesetzte Mittel einer uralten Form von Herrschaft über ein frei und souverän entscheidendes Individuum. Trotz vieler neuer Aspekte, ist die Benennung des Phänomens mit dem Satz „Alter Wein in neuen Schläuchen“ gar nicht so unzutreffend.

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