Ostenmauer – 53. Kassandras und Schlafwandler

Wer biographisch den eigenen Aufstieg erlebt hat, bemisst gesellschaftliche Veränderungen an der gefühlten eigenen Lebenslänge. Wer Jahrzehnte braucht, um sein Leben so zu leben, wie er oder sie es sich einigermaßen vorgestellt hat, kann kaum glauben, in einer Zeit zu leben, in der in recht kurzen Zeiträumen alle geglaubten Gewissheiten zunichte gemacht werden. Es gehört eine nahezu seismographische Sensorik dazu, lange gesellschaftliche Entwicklungslinien früh aufzuspüren und ihre letztendlich fatale Wirkungsweise zu prognostizieren. Und diejenigen, die dazu in der Lage sind, werden vom immer noch in guten Verhältnissen Lebenden auch gerne als die ewigen Kassandras bezeichnet. Letztere existieren in der Tat. Sie haben mit dem Geschäft der gesellschaftlichen Früherkennung wenig zu tun. Ganz im Gegenteil. Sie sind skeptisch gegenüber jeder Art von Veränderung, selbst wenn es sich um Maßnahmen handelt, die geeignet sind, fatale Entwicklungen auszubremsen. Aber so ist das mit der Denunziation. Die schlechten Beispiele existieren in der Tat, die Kassandras, die Verschwörungstheoretiker oder die Scharlatane. Das soll aber nicht davon abhalten, sich der Erkenntnis zu stellen, dass Entwicklungen fatal wirken können, dass tatsächlich Verschwörungen existieren oder dass skurrile Charaktere zuweilen richtige Erkenntnisse haben. Wer das ausblendet, endet als Schlafwandler. Und deren Werk füllt die Seiten der Geschichtsbücher mit Tragödien. 

Kassandras und Schlafwandler

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