Bei der Deutung von Kunstwerken sind der menschlichen Phantasie keine Grenzen gesetzt. Das macht einerseits das Schaffen der Künstler so frei und regt andererseits den individuellen Geist der Betrachtenden genauso an wie die Diskussion über das Produkt. Als, nach zwanzigjähriger Planung, das Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude in Berlin den Reichstag verhüllte, lagen Welten zwischen dem Datum der formulierten Idee und der tatsächlichen Realisierung. Zwischenzeitlich war der Ost-West-Konflikt Geschichte geworden und Deutschland bekam die Chance, sich wieder zu vereinigen. Es stand fest, dass in diesem Gebäude, das seinerseits auf eine verhängnisvolle Geschichte verwies, das Parlament des neuen deutschen Gesamtstaates wieder tagen sollte. Die Christos verhüllten das Gebäude 1995, im Jahr 1999 fand die erste Plenarsitzung des gesamtdeutschen Bundestages dort statt.
Ob die Möglichkeit einer politischen Deutung intendiert war oder nicht. Die Christo-Aktion machte aus dem Reichstag durch die Verpackung ein Geschenk, das plötzlich da stand und ein Rätsel aufgab über das, was sichtbar werden würde, wenn man es denn auspackte. Es bezeichnete für viele Menschen ein Glücksmoment, einen Augenblick der Hoffnung und den Reiz des Ungewissen.
Die Geschichte der Bundesrepublik mit ihrem neuen parlamentarischen Sitz im alten Reichstag ist bekannt. Noch im gleichen Jahr beteiligte man sich an einem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Serbien und es folgten Stück für Stück Entscheidungen, die eher die verhängnisvolle Geschichte des alten Reichstages tradierten als dass sie als die Beschreibung eines neuen Weges hätten gelten können.
Nun, dreißig Jahre nach der Christo-Aktion, wird die Verhüllung des Reichstages mittels optischer Technik noch einmal zelebriert. Auch dort mag die Intention der Lichtkünstler sein wie sie will – es ist im Grunde eine gelungene Fortsetzung der ehemaligen Erzählung. Da die Wiederholung des Ereignisses nur in der Dunkelheit realisiert werden kann, liegt es nahe, aus der anfänglichen Überraschung, dem Geschenk und dem Rätsel, eine Antwort in einem nächtlichen Traum zu suchen. Und der steht nicht luzide am Firmament, sondern er arbeitet mit optischen Täuschungen, mit Variationen und Visionen, die zwischen Hoffnung und Alb changieren.
Und wer nah an der faktisch belegbaren Geschichte bei der Betrachtung der beiden, dreißig Jahre auseinander liegenden Installationen bleibt, wird nicht umhin können, dass aus dem Neuanfang, der Hoffnung und der erlebten Feierlichkeit etwas geworden ist wie Schlaflosigkeit, Szenarien der Angst und ein düsterer Blick in die Zukunft.
Insofern ist die geplante Aktion wieder ein Anlass, sich grundsätzlich Gedanken zu machen über die jüngere Geschichte, die hinter uns liegt, über die Qualität der Vorgänge, die in diesem Gebäude vonstatten gehen und die Perspektiven, die damit verbunden sind. Für seichte Betrachtungen, wie sie allerdings bereits durch die Kanäle gejagt werden, so nach dem Motto, alles war und ist knorke, ist keine Zeit.
Vielleicht mahnt uns das Artefakt wieder einmal, uns auf uns selbst zu besinnen, rücksichtslos die begangenen Fehler zu nennen und uns mit Phantasie und Kreativität auf eine Zukunft zu besinnen, die besser mit dem Tageslicht korrespondiert als mit schwarzer Nacht. Vielleicht in die Kunst die letzte Möglichkeit, uns vom Denken in bleihaltigen Dimensionen zu befreien.

