Ostenmauer – 20. Broken Heart

Eigentümlich, aber es war so. Wir hatten uns eine eigene Welt geschaffen, die den Schutz gegen die bot, die wir nicht mehr wollten, weil sie uns quälte. Wir wurden Grenzgänger, die täglich mehrmals von der einen Lebenszone in die andere entfleuchten, virtuos, geschmeidig, schnell. Wir beherrschten die Rollen, die wir in der einen zu spielen hatten und in der anderen spielen wollten.

Früh morgens wurden wir geweckt, mein Vater, der mehr als ein Jahrzehnt inklusive den großen Krieg als Offizier überlebt hatte, weckte uns mit rauer Stimme und mahnte, dass es Zeit sei, die Schule warte nicht. Wir hatten es so verinnerlicht, dass wir uns nicht quälen mussten. Schnell saßen wir am Frühstückstisch, den der Vater gedeckt hatte und tranken mit ihm Kaffee. Dabei lief das Radio, WDR II, und wir bekamen Berichte von Rhein und Ruhr und der restlichen Welt. Morgens redeten wir viel über Fußball, da gab es auch Streit, aber es war unverfänglich im Gegensatz zur Politik, da schlugen gleich die Funken über den Tisch und ich wäre schon ganz schlecht gelaunt aus dem Haus gegangen. Schalke war immer ein Thema.

Nach dem Frühstück jagte ich die Treppe herunter und durch den langen dunklen Flur, an dessen Ende ich die schwere Korridortür aufdrückte und auf die Nordstraße trat. Schon auf dem Weg zur Schule, den ich meistens zu Fuß zurück legte, weil es nicht weit war, überholten mich Freunde, die entweder auf dem Fahrrad oder mit der Mofa an mir vorbei jagten. Zuweilen sah ich Peule Briest, unseren Kunstlehrer, wie er auf einem viel zu kleinen Fahrrad dahin schlich. Die Baskenmütze grotesk ins Gesicht gezogen, saß dieser Bär auf seinem Gefährt und nicht selten hatte ich den Eindruck, er käme gerade aus der Kneipe, weil er so unsicher herum eierte.

Meistens trafen wir uns vor der Schule am Fahrradständer, wo schon kräftig geraucht wurde und die etwas älteren Helden mit ihren Kreidler Florett oder Zündappmopeds wilde Beschleunigungs- und Bremsmanöver vollführten, um den Mädels zu imponieren. Wir, die noch zu jung waren oder kein Geld hatten oder von zuhause aus so etwas nicht durften, machten uns dann meistens über die Intelligenz der Motorisierten lustig und betonten, wie dumpf diese Typen doch eigentlich seien. Die Mädels lachten zwar über unsere Witzeleien, was sie aber nicht davon abhielt, nach der Schule mit auf die Böcke zu steigen, sich an den dummen Geiern lasziv von hinten festzuhalten und mit ihnen abzurauschen, ohne zu vergessen, uns beim Vorbeifahren lächelnd ein Auge zuzukneifen, was dazu führte, dass wir dann über die Ladies abzogen, wie dusselig sie doch eigentlich auch seien und dick der eine Hintern, wie scheel das andere Auge oder wie schmalbrüstig der dritte Oberbau war.

Was uns blieb, waren dann die Gespräche über Musik. Ich favorisierte Jimi Hendrix und Jeff Beck, stand damit in gewisser Hinsicht alleine, weil die anderen mehr die Stones goutierten, aber man verstand sich und konnte heftig lachen über die dumpfen Kreidlerfreaks, die mit ihren Miezen zu I ´m a Tiger von Lulu auf der Kirmes in der Raupe saßen, knutschten, bis ihnen das bisschen verbliebene Hirn auslief und bei den anderen Karussells, der Zuckerwatte und der obligatorischen Currywurst ausgenommen wurden wie die Weihnachtsgänse. 

Mangels Gelegenheit sparten wir hingegen auf Langspielplatten, die wir hörten, bis unsere einarmigen Plastikplattenspieler müde wurden. Schon nach dem ersten Ton kannten wir alles, ebenso wie jede Textzeile, was bei unserem Englischlehrer, Karl Hosselmann, immer wieder in dem einen oder anderen Fall große Bewunderung auslöste. Wenn wir ein Wort wie Retaliation kannten, weil die Band von Ansley Dunbar so hieß, war er regelrecht verzuckert und pries unsere Initiative. Als mein Nachbar, den wir alle Pollux nannten, allerdings einmal Anita Danzer als fucking bitch bezeichnet hatte, war Karl Hosselmann völlig durchgedreht. Pollux bekam eine schwere Rechte mitten auf die Nase, musste Nachsitzen und kassierte eine Strafarbeit, die ihn sicherlich lange davon abhalten sollte, wieder so einen abgrundtiefen Schund zu hören. Wir verstanden das  nicht, denn warum sollten wir im Englischen nicht Worte benutzen, die in ihrer deutschen Übersetzung in unserer Stadt nicht unbedingt zu den selten gewählten gehörten? Nach solchen Erlebnissen verlegten wir uns darauf, den zudem passionierten Jäger Hosselmann eher dadurch abzulenken, dass wir zum Beispiel aus dem Fenster wiesen, auf einen in der Sonne über dem Pappelhain kreisenden, roten Raubvogel zeigten und fragten, ob das ein besonderer Bussard sei. Nein, schrie er dann wie von Sinnen, das sei doch ein Roter Milan, aber gut, dass ihr auf so etwas achtet. Das ist ein besonders schönes Exemplar. Dumm berechnend fragten wir wie die Kleinkinder nach, was denn so ein Roter Milan fresse und die Stunde war mit Sicherheit gelaufen. 

Am Fahrradständer nach der Schule ging es auch um die eigenen Frauengeschichten, obwohl wir wussten, dass die meisten davon frei erfunden waren. Wir ergötzten uns an der wildesten Erlebnissen und absurdesten Wendungen. Irgendeiner, der dabei stand, wurde dann während einer solchen Hatz ausgeguckt und plötzlich wendete sich alles gegen ihn. Ihm wurde bescheinigt, dass er ja wohl bei solchen Themen gar nicht mitreden könne, weil er noch eine kleine Jungfrau sei. Wir brüllten dann vor Lachen und versprachen dann dem Opfer, ihm am Wochenende eine richtig scharfe Braut zu besorgen, die sich dann barmherzig seiner annähme. Wir übertünchten damit unseren eigenen, furchtbar monotonen Alltag, der aus der Schule bestand, in der es sehr streng zuging und einem Elternhaus, das in der Regel in Sachen Härte mit der Schule konkurrierte. Was bleib, waren meistens ein oder zwei Stunden am Tag, wo wir uns mit dem Ohr an unsere Plattenspieler verzogen, wie Oppositionelle einem freien Radiosender in einer Diktatur. Das waren auch für mich die großen Momente des Tages, wenn ich in dem kleinen Zimmer auf Jimi Hendrix lauschte, seinen irrsinnigen Gitarrenriffs und noch exzentrischeren Texten, in denen er sich dafür entschuldigte, dass er den Himmel küsste oder wie die Schlösser, die aus Sand gebaut sind, allmählich ins Meer gespült werden. Das waren Chiffren für meine Phantasie und nicht selten saß ich vor meinem Dualgerät und weinte in mich hinein, weil mich das alles so rührte. 

Waren die Wochentage schon schlimm, weil sie nur aus Schule, Lernen, im elterlichen Betrieb helfen und früh zu Bett gehen bestanden, so waren die Wochenenden meistens das nackte Grauen. Es gab nichts.   

An den Wochenenden hingen wir in unseren Elternhäusern herum, hörten uns völlig bescheuerte Radiosendungen über die Weltpolitik an und dösten vor uns hin. Wir hatten kein Geld, es gab keine Orte, wo wir uns hätten treffen können außer der Kirche, und privat konnte niemand mit viel Platz aufwarten. Das einzige, was uns rettete, war, dass wir etwas mehr Zeit hatten, um Musik zu hören. Die einzige Abwechslung war das Fußballspiel am Nachmittag, wenn TUS, der ASV oder Blau-Weiß spielten und wir uns dort treffen konnten, während die Väter direkt vom Frühschoppen dorthin auf den Platz kamen und etwas in Geberlaune waren. Wir sahen dann die Spiele und rätselten, wer es schaffen würde zu den großen Vereinen im Ruhrgebiet, schließlich gelang das hin und wieder mal einem, ansonsten sahen wir Partien, die von Härte und viel Unvermögen geprägt waren. Wir hörten uns die faden Witze der Angetrunkenen im Publikum zum tausendsten Mal an und rissen unsererseits Zoten über die Witzereisser. Nach den Spielen gingen wir schlendernd nach Hause, manchmal saß noch ein Eis bei der Diele des Italieners Gamba drin und mit viel Glück waren da noch ein paar Mädels aus der Schule, die einem verstohlen zuzwinkerten. Dann ging es nach Hause, Sportschau ansehen, Abendbrot, das Wort zum Sonntag der Eltern, Bett.

Die Zeit verging, wir wurden größer, begieriger nach Leben, aber es tat sich nichts. Die Sommer waren besser, da ging es an den Wochenenden und in den Ferien an den vierzig Kilometer entfernten Heidesee, wo wir eine Hütte hatten. Dort traf ich Leute meines Alters aus anderen, auch größeren Städten, die mir erzählten, was in Münster und Bielefeld oder sogar in Dortmund los war. Die Jungs aus diesen Städten hatten natürlich schon viel mehr erlebt, waren aber sehr unterschiedlich geprägt. Münsteraner wirkten hochnäsig und bildungsbürgerlich, hatten die längsten Haare und coolsten Sprüche und kannten die abgefucktesten Bands, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Sie rauchten Pot und tranken nicht und Frauen waren für sie nur ein marginales Thema. Die Brüder aus Dortmund und dem Ruhrgebiet waren ganz anders. Sie liebten die härtesten Rockbands, und je lauter und wuchtiger sie waren, desto größer war die Verehrung. Frauen waren das Thema Nummer Eins und ihr Jägerlatein trieb mir die Schamröte ins Gesicht. Sie hatten es alle schon getrieben, heftig, wild und an den unmöglichsten Orten. Sie rauchten filterlose Zigaretten, soffen literweiseweise Bier und Schnaps und donnerten dann auf ihren Feuerstühlen durch die Gegend. Manchmal fuhren wir nachts in das nahe gelegene Bielefeld, dort gab es mehrere Clubs, in denen Livemusik gespielt wurde. Am Heidesee sammelte ich meine ersten Erfahrungen mit den Mädels und ich verband von da ab meine ganze Sehnsucht mit dem Heidesee. 

Waren die Sommer vorbei, trat die Leere wieder ein, der Trott, die Monotonie, das dunkle Dasein. Wenn sich die Möglichkeit bot, trampte ich an den Wochenenden zu meinen neuen Bekannten vom Heidesee in deren Städte. Oder zur Freundin nach Bielefeld oder Dortmund. Dort saßen wir dann in schlechten Kneipen oder Cafés, sahen uns in die Augen und schworen uns ewige Gemeinschaft. Die Fahrten zurück empfand ich wie eine Deportation gegen meinen Willen und das ganze Elend stieg in mir auf wie ein bösartiger Saft. Fuhr ich sonntags mit dem Zug zurück, traf ich auf Bahnhöfen Unmengen Soldaten, die in die Züge stiegen, um auf die große Panzerschlacht gegen die Russen in der norddeutschen Tiefebene gedrillt zu werden. Meistens waren sie schwer alkoholisiert und sangen Lieder vom Sterben und der Revolution, flachsten aus den Abteilen heraus und sobald eine Frau auftauchte, erscholl ein Schrei wie bei einem Tor im Fußballstadion.

Manchmal trampten wir samstags zu einem Händler auf dem Land, in Herzebrock, der hatte Parkas und Jeans, verkaufte Pot und Westernhemden mit Rüschen, Ledergürtel und Springerstiefel. Der Typ war völlig durchgeknallt und schätzte seine Kunden regelmäßig falsch ein. Den langhaarigen Intellektuellen wollte er Cowboyhemden oder Springerstiefel verkaufen, den Prols lieber Pot oder Levis. Alle signalisierten ihm, er habe eine Vollmeise, aber sie kamen wieder. Hinterher standen wir stundenlang vor seinem Laden, rauchten, tranken Cola und betrachteten die abfahrenden Busse, bis der letzte gefahren war. Dann stellten wir uns an die Straße und hielten den Daumen in den Wind.

In der Schule wurde zunehmend die Politik ein Thema. Wir diskutierten über den Vietnamkrieg, den wir seitens der USA nicht für gerechtfertigt hielten.  Die ersten Flugblätter der RAF zirkulierten unter den Schülerpulten, deren Sprache schreckte uns jedoch ab und diejenigen, die sich für den Sektenjargon erwärmen konnten, gingen uns am Arsch vorbei. Der Putsch der Junta in Chile war da etwas anderes, die Ermordung des Salvador Allende traf uns sehr und wir redeten davon, dass es mal wieder Zeit sei, internationale Brigaden zu bilden. Wir lasen vermehrt und aus Interesse, studierten die politische Literatur und wurden dadurch besser in der Schule.

Das Leben änderte sich nicht. Immer mehr setzte sich die Erkenntnis durch, dass diese Verhältnisse, in denen wir lebten, in dieser furchtbaren, bizarren und rückständigen Provinz, dass diese Verhältnisse nicht zu ändern waren. Und es wurde immer deutlicher, dass das alles, was wir hier durchmachten, nur der Auftakt war für das endgültige Ende. Wer blieb, würde zugrunde gehen und wer ging, hatte zumindest eine Chance. Und als Hendrix und Joplin starben, konnten wir nicht einmal mehr nachts das Radio der freien Welt hören. Der Entschluss, zu gehen, wuchs und die Widerstände dagegen auch. Die Auseinandersetzungen mit den Elternhäusern wurden unappetitlicher, die eigene Rigorosität stieg. Die letzten zwei, drei Jahre wurden zu einem einzigen Finale. Der Blick ging nach draußen, ins Leere, irgendwohin, wo die Hoffnung ein Zuhause hatte und nicht der Muff den Tag dominierte. Es waren die großen Städte, die reizten, ich las Hemingway und liebte den Matador. Drei Jahre vor dem Abitur verliebte ich mich in ein Mädchen meiner Schule, auch sie wollte gehen, das war es, was uns verband. Als es später soweit war, trennten sich unsere Wege. Sie ging auch, bleib aber nicht lange und kehrte zurück. Als ich das Abitur gemacht hatte, arbeitete ich noch ein paar Monate in der Fabrik. Dort lernte ich einen LKW-Fahrer kennen, der irgendwann nachts vor unserem Haus vorfuhr. Wir luden meine Habseligkeiten auf die Ladefläche und ab ging es in den Süden. In der Folgezeit kam ich noch manchmal zu Besuch. Es zog mich immer mehr runter, jedesmal bekam ich den Blues. Jahrzehnte liegen nun dazwischen, ein Freund ist mir geblieben. Vor kurzem fuhr ich wieder durch die Gegend, auf dem Weg von A nach B, nichts ist mehr so, wie es war, es ist schlimmer. Ich kam auch durch Herzebrock, da, wo wir den Bussen zuschauten, wenn sie weg fuhren. Ich wollte es kaum glauben, mein Herz brach schon wieder, aber es tat nicht mehr weh. 

Ein Hotspot an Sonntagnachmittagen

2 Gedanken zu „Ostenmauer – 20. Broken Heart

  1. Pingback: Ostenmauer – 20. Broken Heart | per5pektivenwechsel

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.