Eigentlich kam er aus Dortmund. Aber er arbeitete in Bochum. Bei Opel. Es waren unruhige Zeiten. Die Siebziger. Karl-Heinz gehörte zu denen, die immer gleich zum Kern der Sache vordrangen. Jeden Satz schloss das vertraute Wort „Woll“ ab. Wir trafen Karl-Heinz immer nur am Wochenende. An einem See im Ostwestfälischen. Dort hatte Karl-Heinz mit seiner Familie, das waren Frau und Tochter, einen Wohnwagen. Weißt du, so Karl-Heinz, jede Putze fährt doch nach Malorka, ich bin doch nicht bescheuert. Da bleib ich doch hier, ist doch viel schöner. Und schon zischte es wieder, weil er eine neue Dose Hansa Bier öffnete. Zum Bier gab es Schnaps, meisten einen, der Fürst Bismarck hieß. Die Zigaretten, die er rauchte, nannte er beharrlich Affenflöten. Wir saßen gerne bei Karl-Heinz, nicht nur, weil es etwas zu trinken gab, sondern weil er ein lustiger Vogel war. Seine Tochter, die sehr hübsch war, hatte, so Karl-Heinz, jetzt so einen Rock ´n Roll Jonny, der auf einer Gitarre herumklimpere, was sich schrecklich anhöre. Wenn die jetzt auch noch mit einem Igel ankäme, womit er ein Kind meinte, dann sei aber was los. Karl-Heinz stand mehr auf Lieder, die sich heute keiner mehr zu singen wagt. Schwarzer Zigeuner hieß so eins, das sang er, wenn der Fürst Bismarck zur Neige ging. Oh Schwarzer Zigeuner, ich hab dich tanzen gesehen, woll?
Da Karl-Heinz bei Opel in Bochum Schicht arbeitete, wollten wir wissen, was da so los sei. Wir wussten, dass dort mehr als 20.000 Menschen arbeiteten und es heftige politische Auseinandersetzungen gab. Innerhalb des Betriebes existierte eine revolutionäre Gewerkschaftsopposition, wie sie sich nannte. Listen gegen den DGB, mit marxistischen, manche sagten sogar maoistischen Kandidaten, die bei den letzten Betriebsratswahlen ein Drittel der Stimmen bekommen hatten. Das war eine Sensation. Karl-Heinz redete jedoch immer so, als wüsste er von nichts. Da laufen genug Bekloppte rum, warum also auch nicht die. So sahen seine Analysen aus.
Und dann kamen in den Nachrichten Horrormeldungen von einem so genannten wilden Streik bei Opel in Bochum. Die revolutionäre Gewerkschaftsopposition hatte dazu aufgerufen und die Produktion stand still. Es ging um Betriebsratspolitik. Polizei tauchte im Werk auf, es gab böse Verwerfungen innerhalb der Belegschaft. Die Revolutionäre im Land witterten Morgenluft. Letztendlich jedoch wurde der Streik niedergeschlagen und die Aufständischen auf dem Werksgelände festgenommen, angezeigt und gefeuert.
Als wir danach Karl-Heinz fragten, was denn da los gewesen sei, erzählte er uns zum ersten Mal, was er überhaupt dort machte. Er überwachte an einem Pult die Stromversorgung der Produktionsstraßen. Und als die Streikenden auf ihn zugekommen seien, um ihn um Unterstützung zu bitten, habe er selbst das Mikrophon ergriffen und dort hineingesprochen, ich dreh euch jetzt den Saft ab, ihr Arschlöcher. So war Karl-Heinz. Und dann gab es wieder Hansa und Fürst Bismarck.
Karl-Heinz blieb bis ans Ende seines Arbeitslebens bei Opel Bochum. Sein Wohnsitz blieb Dortmund. Sein Mallorca hieß Peckeloh. Irgendwann trank Karl-Heinz nur noch Wasser, weil sein Arzt ihm dazu geraten hatte. Dafür kaufte er sich ein Akkordeon und spielte darauf diese schrecklichen Lieder. Wir besuchten ihn weiter, weil er seinen Humor nicht verloren hatte und er einfach ein Originalton aus dem Ruhrgebiet war. Irgendwann trieb es uns in andere Richtungen. Ein paar Jahre später erfuhren wir, dass Karl-Heinz gestorben war. Früh, zu früh für sein Alter. Den Igel seiner hübschen Tochter lernte er nicht mehr kennen. Das Ende des Opelwerkes erlebte er auch nicht.


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Was für eine traurig-schöne Geschichte!