Peter Sloterdijk, Der Kontinent ohne Eigenschaften. Lesezeichen im Buch Europa
Wenn das Collège de France ruft, macht sich auch so ein renommierter Denker wie Peter Sloterdijk auf den Weg. In insgesamt sieben Vorlesungen hat er dort „vielbeachtete“ Aspekte zum Thema Europa beleuchtet. Durch das Attribut ist die potenzielle Leserschaft bereits exkulpiert, denn „vielbeachtet“ ist, im Gegensatz zu „umstritten“, völlig unbedenklich. Und es ist nicht nur unbedenklich, sondern sogar ratsam, sich wieder einmal den Mühen einer Sloterdijk-Lektüre zu unterziehen. Denn wenn dieser Autor eines bietet, dann sind es immer Diskurse entlang einer philosophischen Enzyklopädie und Perspektiven, deren Blickwinkel ihm vor dem Druck allein gehören. Sprich, der Mann ist nach wie vor originell. Im strengen Sinn des Wortes.
Und nahezu verdächtig lapidar beginnt er seine Ausführungen mit dem Henry Kissinger zugeschriebenen Kalauer, er wisse nicht, wen er anrufen solle, wenn er mit Europa sprechen wolle. Entsprechend dieser mit Halbwahrheit durchsetzten Pointe nannte Sloterdijk selbst seine Betrachtungen denn auch „Der Kontinent ohne Eigenschaften“. Wiederum ein Verweis auf den Roman Robert Musils, der die Aufgabe der Entschlüsselung einem einzigen Individuum zuschrieb.
Nun aber, die Aspekte, die Sloterdijk in dieser Vortragsreihe anführt, sind mächtig. Nachdem er sich über die Abgesänge zu Europa ausgelassen hat, widmet er sich der Konstitution Europas als Imperium mit der Vorlage Roms. Das von ihm als Lateinisch bezeichnete System ist die Herrschaft im Innern wie im Äußeren, der Ausgriff auf die Welt, um ihr die eigene Ordnung einzuverleiben. Was historisch ein Faktum, in Bezug auf das zu erwartende Resümee jedoch im Blick zu behalten ist.
Was diesen Kontinent ausmacht, der genau genommen nichts anderes als die westliche Ausfransung der eurasischen Landmasse ist, ist die Fähigkeit, Lern- und Optimierungsprozesse als ein Wesenszug zu entwickeln, der sich von anderen Kulturen signifikant abhebt. Die Aufklärung und die mit ihr einhergehenden epistemologischen Revolutionen und die Quantensprünge in der Produktionsweise von Gütern haben den kleinen Weltflecken zu einem globalen Promotor gemacht.
Die Revolutionen, die auf diesem Landstich erfolgt sind, in Deutschland in Form der Reformation, in England als Konstitution und in Frankreich als manifeste Politik, haben schlichtweg die Welt überall dort, wo Europa aktiv wurde, verändert. Die entstandene Dualität von Individuum und Staat, von materieller Existenz und Gewissen, hat zu einer nicht selten defätistischen Selbstreflexion geführt, die sich in unterschiedlichen Formen geäußert hat und bis heute existent ist.
Und dennoch ist sich Europa dem Ausgriff auf die Welt treu geblieben. Seine bis heute existierende Dominanz verdankt es der nautischen Hegemonie. In diesem Kontext bekommen terrestrisch agierende Imperien wie Russland und China den Nachweis barbarischer Komplotte. Auch wenn der europäische Main Actor heute transatlantisch ist und als einziger Nachfolger Roms noch Geltung hat. In Washington regiert das mutierte Imperium Romanum, denn was ist das heutige Europa sonst noch, als ein Ensemble gedemütigter Imperien?
Alle Versuche, den europäischen Imperialismus und Kolonialismus abzuschütteln, sind fehlgeschlagen oder müssen fehlschlagen, weil die sich von ihm lossagenden Nationen die Schattenseiten der europäischen imperialen Kultur kopieren und seine Potenzialquellen nicht zu adaptieren in der Lage sind.
Sloterdijks abschließender Verweis auf den Kannibalismus als einzige Möglichkeit des globalen Südens, sich von der europäischen Essenz zu befreien, in dem sie verspeist wird, ist ein Verweis auf das Halluzinogene, mit dem Genialen konkurrierende seiner Sichtweisen.
Lesen? Auf jeden Fall! Die Lektüre ermöglicht einen Zustand der Reflexion und Enthemmung, ohne das mittlerweile legalisierte Cannabis konsumieren zu müssen. Und die Einnahme ist jugendfrei, weil vielbeachtet und nicht umstritten. Politisch korrekt eben.

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