Seit dem Zeitpunkt, an dem die so treffende wie indikatorische Redewendung „von der normativen Kraft des Faktischen“ die Öffentlichkeit erreichte, ist ein Zustand erreicht, der gründlich überdacht werden muss. Kurze Zeit später hieß es dann auch noch, man „fahre auf Sicht“, was zu der ersten Formulierung komplementär gelesen werden muss. Man könnte zurückgreifen auf Hegels Satz, dass alles, was ist, vernünftig sei und daraus den Stillstand als die Realität anpreisen, aus der es kein Entrinnen gibt. Und wenn sich doch etwas verändert, dann kann man nur darauf reagieren. Zur Beruhigung aller, die jetzt bereits die Stirn runzeln: Hegel war schon weiter, denn dem oben angeführten Satz folgte der als Schulgeheimnis der Hegel´schen Philosophie geltende, dass alles, was vernünftig ist, sein müsse. Und schon waren zumindest die Berliner Studenten im frühen 19. Jahrhundert in Bezug auf eine strategische Ausrichtung menschlicher wie gesellschaftlicher Handlungen weiter als der heutige Zeitgeist.
Zumindest hier, in unserem kulturell-politischen Dunstkreis. Selbiger ist definiert durch ein politisches System, das mit Regelmäßigkeit durch Wahlen die Legitimität politischen Handelns herzustellen sucht. Der Gedanke ist lobenswert, hat jedoch einige Bruchstellen. Eine, um die es hier geht, ist die Kürze der Wahlperioden und die notwendige Karriereplanung der handelnden Politiker. Dinge, die in einem Jahrzehnt vielleicht aus jetzigen Entscheidungen resultieren, betreffen nicht mehr die, die sie treffen. Geschweige denn, was kommende Generationen betrifft. Und, um einer trunkenen Vorstellung vorzubeugen, auch die jetzt lebenden Jungen haben diese Perspektive nur so lange im Blick, sofern sie glauben, den Zustand selbst noch erleben zu müssen.
Es geht hier nicht um den Tadel aktueller Akteure, wiewohl es dazu immer wieder Anlass gibt, sondern es geht um den Kerngedanken, dass der gegenwärtige Zustand der politischen Legitimation mehr oder weniger systematisch die Entwicklung einer langfristigen Strategie für eine komplexe Massengesellschaft ausschließt. Das ist beängstigend und zeigt, in Konkurrenz zu autoritäreren Staatsstrukturen, einen erheblichen Nachteil.
Aktuell sind sich viele Menschen dieses Defizits bewusst, aber es scheint so, als befänden wir uns in einem Zustand, wie er im „Hotel California“ so treffend beschrieben ist: „You can check out any time you like, but you can never leave.“ Wer sich vom Tagesgeschäft, dieser grausamen normativen Kraft des Faktischen, abgrenzt und versucht, etwas systematischer sich der Aporie von Legitimation und Strategie zu widmen, wird von den Bluthunden der Erregungsgesellschaft zu Tode gehetzt. Das, was Gesellschaften, die eine gute Zukunftsprognose für sich beanspruchen, auszeichnet, ist unter anderem die Fähigkeit systemischer Innovation.
Die Notwendigkeit einer Strategie beinhaltet sehr viele gesellschaftliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, die momentan nur rudimentär vorhanden sind. Aber es ist nicht so, dass es keine Menschen gäbe, die nicht in der Lage wären, einen solchen Prozess zu bewerkstelligen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es erwünscht ist.
Genau betrachtet sind die „Gewinner“ der Krisen, die aus einer mangelnden, strategischen und programmatischen Ausrichtung über das Gemeinwesen hereinbrechen, an einer systemischen Innovation nicht interessiert. Das Malheur, so könnte man es salopp ausdrücken, ist die Quelle des Reichtums einer Minderheit. Diese wiederum verteidigt apologetisch den Zustand, der als nicht zufriedenstellend bezeichnet werden muss. Die Kritik an den bestehenden Zuständen wird als Blasphemie verdammt. Dabei ist sie momentan der konstruktivste Impuls.
