Ostenmauer – 1. Auf der Straße

Vieles, was sich Erkenntnis nennt, dämmert erst im Alter. Die Art, mit Herausforderungen  umzugehen, scheint sehr früh in der Kindheit begründet zu liegen. Es scheint, als ob es ein großes Privileg sei, mit der früh erworbenen Disposition erfolgreich durch das Leben kommen zu können. Ohne immer wieder zu scheitern, auch wenn es in einem erfolgreichen Leben auch nicht ohne Scheitern vonstatten geht. 

Früh aus der Sicherheit einer bürgerlichen Familie entlassen, war die Straße eine meiner  wesentlichen Sozialisationsebenen. In den frühen sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, an der Peripherie des Ruhrgebiets, mit Zechen und Fabriken hinter dem Bahndamm. Und einer ländlich und bürgerlich geprägten Welt im direkten Umfeld. Es kam darauf an, auf welche Straße ich ging. Hinter dem Bahndamm war es rau, da wurden Sachen gemacht und Wörter gebraucht, die man im Norden noch gar nicht kannte. Dort wurde noch im Spiel gelernt, auch wenn sich der Ton von dem heutiger Tage dramatisch unterschied. 

Wer auf der Straße aufwuchs, hatte zwei Chancen. Entweder wurdest du Alpha-Tier oder du gewöhntest dich a die Tritte der anderen. Wer überleben wollte, musste kämpfen. Es war eine Frage, wie ich mit der Angst umging. Alle hatten. Angst, die einen wurden von ihr gelähmt und hatten nichts zu lachen, die anderen lernten, sie zu überwinden und erlebten dabei das Gefühl der Befreiung. Das ging auf Kosten anderer. Eine andere Option existierte nicht.

Erst Jahre später sang eine viel zu früh verstorbene amerikanische Sängerin die Zeilen, dass Freiheit nur ein anderes Wort für den Umstand sei, nichts zu verlieren zu haben. Nie vorher war aus dem Radio etwas gekommen, dass meiner selbst gemachten Lebenserfahrung mehr entsprach. Diese Erkenntnis hat sich bis heute gehalten. Wenn du an etwas hängst, bist du nicht frei. Freiheit bedeutet, dass dieses hohe Gut nur durch den Schmerz der Trennung gewonnen werden kann. Freiheit erlangt man nicht auf dem Sofa und nicht in der guten Stube.

Insofern war die Straße meine Schule der Freiheit. Das mag allen gängigen pädagogischen Konzepten widersprechen. Dann ist es so. Der Kampf, der der Straße eigen ist, wird getragen von einem Grundgefühl. Es ist das der Rebellion. Rebellion gegen andere Alpha-Tiere, die dir vorschreiben wollen, was du zu tun hast. Und Rebellion gegen die eigene Angst. Die Rebellion hilft dir, als Mensch zu überleben. 

Der rebellische Impetus war prägend. Bis heute, wo vieles erlebt ist, wo vieles etabliert ist und wo die direkten Kontrahenten der Straße verschwunden sind, kommt er immer als erste Reaktion zum Vorschein. Wer will hier was? Will ich das? Wenn nicht, wie und wann schlage ich zu? Wenn man so will, nicht nur eine Reminiszenz an das eigene Dasein auf der Straße, sondern auch an die später gewählte Phase als aktiver Boxer. Und an viele Jahre im Berufsleben. Die Erkenntnis bleibt. Das frühe Leben auf der Straße hat seine Spuren hinterlassen.  

Nach Jahrzehnten ein Besuch dort. Auf der Straße, wo alles begann. Aus heutiger Sicht ein provinzielles Idyll. Es wirkte in erster Linie langweilig. Ostenmauer. Die subjektiv erlebte Hölle, in der so manches mal der Körper schmerzte und die Seele litt.

Ostenmauer

Ein Gedanke zu „Ostenmauer – 1. Auf der Straße

  1. Avatar von TillsitterTillsitter

    Klasse!! Was wären wir ohne den rebellischen Impetus? Sehr gut erinnere ich mich an den kleinen Knirps, der Rotz und Wasser heulend nach Hause lief um dort nur zu hören: „Heul nicht, wehr dich.“ Danach die kläglichen und erfolglosen Versuche, durch Servilität Anerkennung zu erlangen. Bis mein Vater eines Tages sagte, dass es nicht darauf ankommt, zu gewinnen, sondern darauf, dass sich der andere nie wieder mit dir anlegt. Danach ging es praktisch Schlag auf Schlag und neben Nasenbluten und blauem Auge trug ich doch auch einen gewissen Stolz nach Hause. Der rebellische Impetus kommt auch bei mir heute noch als erste Reaktion, der Straße sei Dank und meinen Eltern, die mich vor der Straße nicht „beschützt“ haben.

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