Toxisch: „Schuld sind immer die anderen!“

Vielleicht gehört es ja zu den nationalen Eigenheiten der Spezies, die sich hinter dem Begriff „Deutsch“ verbirgt, dass im Vordergrund der Überlegungen nicht der Versuch steht, ein Problem zu lösen, sondern die akribische Suche nach den Schuldigen. Wer aus Verbrechen und Strafe Schuld und Sühne macht, weiß, wo die Prioritäten liegen. Seit wann die psychopathologische Suche nach den Schuldigen so en vogue ist, wäre eine interessante Aufgabe für Historiker. Ist es nach dem Dritten Reich und dem nachfolgenden Desaster und das Ergebnis einer hinterhältigen Form der Re-Education oder beginnt es schon mit dem Mord an unserem heldenhaften Siegfried? 

Unabhängig davon ist es momentan sehr ergiebig, sich anzusehen, wie die mannigfachen und reichhaltigen Probleme, in dem sich eine Massen- und Industriegesellschaft in Zeiten großer technologischer wie politischer Veränderungen befindet, eingeordnet werden. An dem Bündel der damit verknüpften Problemstellungen sind alle möglichen Ensembles schuld, glaubt man den selbst ernannten Qualitätsmedien. Da ist, wie könnte es anders ein, die momentane Regierung, da ist ein Wladimir Putin, da sind die Chinesen, da ist ein Donald Trump und neuerdings auch noch solche Kanaillen wie Elon Musk. Hat man diese Figuren und Entitäten einmal benannt, lebt es sich im Konvolut ungelöster Probleme schon mal erheblich leichter. Und wenn es dann noch gelingt, diejenigen im eigenen Land, die sich an Ursachenforschung und Lösungsansätzen abarbeiten irgend einem Feindbild zuzuordnen, dann kann man in aller Ruhe so weitermachen wie zuvor. Das löst zwar kein Problem, klärt aber zuverlässig die Schuldfrage.

Die hohen Energiepreise, die sich auf Produktionskosten wie Konkurrenzfähigkeit auswirken, sind das Ergebnis eigener Entscheidungen. Man hat die Lieferungen aus Russland gekappt oder sich kappen lassen und man strukturiert die Energieversorgung um, was die Netzerstellung, -Erweiterung wie -Unterhaltung extrem verteuert hat. Man hat den Mindwechsel in der individuellen Mobilität nicht rechtzeitig erkannt und ist bei den bewährten und bis zu einem gewissen Zeitpunkt erfolgreichen Formen geblieben, ohne sonderlich innovativ zu sein. Im Bereich der Infrastruktur wurde nicht einmal der Bestand gesichert. Investitionen in die Unterhaltung blieben aus, geschweige denn in die in eine notwendige Modernisierung. Das Bildungssystem wurde, trotz zahlreicher Hinweise auf massive Defizite, in seiner alten Struktur aufrechterhalten. Chancenungleichheit und eine Ignoranz gegenüber den vorhandenen humanen Potenzialen waren die Folge. Indem man sich an diversen unsinnigen, völkerrechtswidrigen wie nutzlosen Kriegen beteiligte, sorgte man für Immigrationswellen, die das Vermögen der eigenen Institutionen weit übertraf.

Der wohl größte Fehler war die Vorstellung, es bei der eigenen Bevölkerung nicht mit einem Souverän zu tun zu haben, der über genügend Potenzial und Phantasie verfügt, um sich als Protagonist den Herausforderungen stellen zu können. Statt alle Aufmerksamkeit seinen Rechten zu widmen, verabschiedete man ausufernde Regeln, und drohte bei ihrer Nichteinhaltung mit Sanktion. Regel und Sanktion wurde zum Paradigma einer vertrödelten Epoche. Gelöst hat es nichts. Vertrauen wurde dadurch zerstört und es hat zu einer essenziellen Krise des politischen Systems geführt. 

Es geht nicht darum, erneut auf die Suche nach Schuldigen zu gehen. Es geht darum, Ursachen für Krisen, Probleme und Herausforderungen zu benenn und sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie ein Land und seine Bevölkerung seine Potenziale einsetzen muss und kann, um eine Zukunft zu schaffen, die vereint und zu Hoffnung Anlass gibt. Bei einer derartigen Aufgabenstellung ist der Slogan „Schuld sind immer die anderen“ nicht nur einfältig, sondern hoch toxisch! 

3 Gedanken zu „Toxisch: „Schuld sind immer die anderen!“

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  2. Avatar von lyriostlyriost

    Klingt (fast) alles gut wahrgenommen. Nur eines will mir nicht einleuchten: daß das „vielleicht“ eine spezifisch deutsche Herangehensweise sein soll. Ich glaube das nicht. Mein Eindruck ist vielmehr der einer weltweit verbreiteten Verirrung. Wir bekommen das nur nicht so detailliert mit, weil wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt sind. Immerhin wird hierzulande (noch) nicht oder nicht mehr wie andernorts bisweilen mit der Knarre im Anschlag nach Schuldigen gesucht.

  3. Avatar von TillsitterTillsitter

    Es war wohl doch mehr als eine Vorstellung, dass man es mit der Bevölkerung nicht mit einem Souverän zu tun hat. Für einen Souverän lässt sie sich viel zu viel gefallen. Die Bande lag also richtig mit ihrer Einschätzung.

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