SNAFU

Das Prinzip, oder besser gesagt, der Zustand, der aus dem Prinzip entsteht, ist so alt wie die Menschheit. Der skurrile und blasphemische Name hingegen tauchte zum ersten Mal in der US-Armee während des II. Weltkrieges auf. Dort hieß es dann: Situation normal, all fucked up! Kurz: SNAFU. Die Umschreibung faszinierte so, dass sie sich nicht nur wie ein Lauffeuer in der Armee ausbreitete, sondern es bis in die Literatur und in die Organisationssoziologie schaffte. Einmal abgesehen von der Massenwirksamkeit, die die Formulierung aufgrund ihrer Griffigkeit sehr schnell erlangte, ist die sich dahinter verbergende Situation das Interessante.

Lange Zeit, vor allem in der erwähnten Organisationssoziologie, wurde sie dazu benutzt, um ein Phänomen zu beschreiben, das nahezu alle Menschen, die einmal in Organisationen gearbeitet haben, kennen. Es geht dabei um das Vorenthalten von Informationen. Gerne gemacht und aufgrund der etablierten Stellung ermöglicht, wurde und wird das bewusste Verschweigen von Informationen innerhalb der Hierarchie als Instrument gepflegt. Diejenigen, die es machen, versprechen sich davon Vorteile. Man muss nicht gleich von Herrschaftswissen sprechen. Aber die eine oder andere Information kann in bestimmten Situationen Vorteile bringen, wenn man allein in deren Besitz ist. Wenn das Phänomen verbreitet ist, entsteht daraus ein Allgemeinzustand, der sich sehr gut mit SNAFU beschreiben lässt. Denn die Motive, bestimmte Entscheidungen zu treffen oder Handlungen vorzunehmen, sind nicht nur unterschiedlich, sondern sie haben keine gemeinsame Basis mehr. Das notwendige Ergebnis ist das Chaos. Man kann es auch anders formulieren: der Wunsch, sich bestimmte Vorteile in der Hierarchie zu verschaffen, bringt die Organisation in existenzielle Gefahr.

So zutreffend es ist, die heutige Situation mit SNAFU zu beschreiben, so wenig ist sie auf das Motiv der eigenen Vorteilssicherung zu reduzieren. Vor allem in gesellschaftlichen und politischen Kontexten ist die Situation weitaus komplexer. Hinzu kommen Motive, tatsächliche Strukturen, die nur von Eingeweihten erkannt werden, vor der großen Masse zu verbergen. Ein Beispiel ist das nicht Verfolgen oder Verschweigen der Zerstörung der deutschen Gas-Pipelines in der Ostsee. Käme heraus, wer dafür verantwortlich ist, wäre die komplette politische Argumentation hinsichtlich der Sicherheit in der bestehenden Bündnisstruktur außer Kraft gesetzt. Ein politisches Erdbeben wäre die Folge. Um dieses zu verhindern, wird geschwiegen.

Da es sich bei diesem Beispiel nicht um einen Einzelfall handelt, sondern wir eher von der Regel sprechen müssten, wenn man an die Kriegsursachen in der Ukraine denkt, oder an die systematische Umgehung von Sanktionen gegen Russland, oder die Motive zum Außerkraftsetzen von verbrieften Grundrechten während der Corona-Krise etc.., ist die Situation, in der immer mehr Menschen den Eindruck eines argumentativen Irrenhauses bekommen, das Ergebnis von systematischem Vorenthalten von Fakten. Dass die totale Transparenz, die gerne in diesem Kontext gefordert wird, andere Verhältnisse hervorzubringen in der Lage wäre, sei dahin gestellt.

Was strukturell für den beschriebenen Zustand verantwortlich zeichnet, ist die Vorstellung, dass eine kollektive Aufgabe durch die Nicht- oder Desinformation großer Teile des Kollektivs gelöst werden kann. Dieser Irrglaube führt zu den zu verzeichnenden irren und wirren Verhältnissen. Im Gegensatz zu mancher Groteske aus der Militärgeschichte oder dem Arbeitsleben hat sich die Situation jedoch zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen ausgewachsen. Irgendwie entsteht der Eindruck, dass Instrumentarien der guten Regierungsführung, zu denen Kategorien wie Vertrauen und Diskretion führen, zu absurdem Geschnatter und jämmerlichen Versuchen der Verheimlichung degeneriert sind. SANFU eben. Situation normal, all fucked up?

Ein Gedanke zu „SNAFU

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