GB: Der Markt hat es gerichtet

Als die britischen Tories im Jahr 1979 mit der Spitzenkandidatin Margaret Thatcher eine lange Periode sozialdemokratischer Regierungsverantwortung ablösten, taten sie das unter anderem mit dem rhetorisch genialen Slogan „Labour doesn’t ´t work.“ Mit Thatcher begann die Epoche des ungebremsten Wirtschaftsliberalismus. Alles, was zuvor aus dem Marktgeschehen herausgehalten worden war, um Dinge wie Infrastruktur, Bildung, Gesundheitswesen und viele Einrichtungen, die der Definition des Gemeinwesens zugrunde lagen, allen Teilen der Gesellschaft zugänglich zu machen, wurde in den Folgejahrzehnten rücksichtslos privatisiert. Auch Intermezzi wie das eines Tony Blair (1997 – 2007) änderten daran nichts. Auch Labour glaubte, mit dem neuen Glaubenssatz des Neoliberalismus Wahlen gewinnen zu müssen. Ein Geist, der sich von den Vereinigten Staaten über Großbritannien bis nach Deutschland, und auch dort über die Konservativen bis in die Sozialdemokratie erstreckte, hat das letzte halbe Jahrhundert den einst ökonomisch potenten Westen geprägt.

Der 4. Juli 2024, der zufällig auf den Jahrestag der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung fiel, sollte aus einem anderen Grund in den Journalen fett markiert werden. Denn er besiegelte das ungehemmte und schamlose Treiben der ideologischen Enkel von Margaret Thatcher. Als die letzte ununterbrochene Regierungsperiode der britischen Tories vor 14 Jahren mit David Cameron begann, zählte das Land 30 Tafeln, über die die Bedürftigsten versorgt wurden. Heute sind es über 3000 solcher Einrichtungen. Allein diese Zahl sagt mehr aus, als die Unzulänglichkeiten, Eskapaden und widerlichen Ansinnen von Prototypen wie Theresa May, Boris Johnson, Liz Truss oder Rishi Sunak, die allesamt den skurrilen Figuren eines William Shakespeare alle Ehre machen würden, das Land jedoch bis auf wenige Inseln in den Abgrund geführt haben. Ja, die City of London, wo der Finanzhandel blüht, prosperierte in all den Jahren des Wirtschaftsliberalismus weiter. Dort, wo niemand mehr der angestammten Bevölkerung wohnt, weil die Immobilienpreise Mondcharakter haben, verdiente man fleißig an jeder Privatisierungswelle, jedem Krieg und jeder inszenierten Innsolvenz. Im Rest des Landes jedoch herrschen Armut und Depression. Und, wer das alles für übertrieben hält, reise in Regionen fern ab von London und sehe sich Wohnviertel wie Supermärkte an. Oder er rede mit denen, die zur Tafel gehen. Da stehen Vollzeitbeschäftigte aus dem Gesundheitswesen ebenso an wie Arbeitslose. Da herrscht der Mangel.

Gestern, an diesem 4. Juli 2024, bekamen die Tories die Quittung. Sie verloren zwei Drittel ihrer Sitze im Unterhaus und wurden damit aus der Regierungsverantwortung gefegt, während Labour seine Sitze verdoppeln konnte und mit Keir Starmer den neuen Premierminister stellen wird. (In absoluten Zahlen sieht es allerdings weniger dramatisch aus. Das Mehrheitswahlrecht macht es möglich). Ob er und seine Partei in der Lage sein werden, eine mentale Wende einzuleiten, ist aus skeptischer Distanz zu beobachten. Die nach ihren Motiven befragten Wählerinnen und Wähler beteuerten, dass sie die Nase gestrichen voll hätten von den selbstverliebten, verlogenen und auf den Listen der Lobbies stehenden Konservativen, aber dass sie auch nicht unbedingt große Hoffnung auf die Partei hätten, die momentan auf der Tory-Quittung steht. Dennoch bekam Labour nahezu zwei Drittel der Stimmen.

Die Frage, die sich nicht nur den Briten stellt, ist die, ob es zu einer Abkehr vom Wirtschaftsliberalismus kommen kann. Der Markt, der als die ultimative Ordnungsgröße der Neokonservativen seit Jahrzehnten gepredigt wird, hat in Großbritannien eine gesellschaftliche Wüste hinterlassen. Er hat es tatsächlich gerichtet. Im Sinne einer Abrissbirne. Wer politisch klug ist, zieht daraus seine Lehren. Aber vielleicht ist das bereits wieder zu viel verlangt!

4 Gedanken zu „GB: Der Markt hat es gerichtet

  1. Avatar von keinspam1989keinspam1989

    „während Labour seine Stimmen verdoppeln konnte“

    Sitze, nicht Stimmen

    „Dennoch bekam Labour nahezu zwei Drittel der Stimmen.“

    Nahezu zwei Drittel der Mandate mit gerade mal einem Drittel der Stimmen (33,8%).

    Das Mehrheitswahlrecht macht`s möglich. (Siehe auch: CxU, nicht ausgeglichene Überhangmandate, Grabenwahlrecht, Demokratieabbau)

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