Das Bereichernde des Blicks von außen

Neil MacGregor. Germany. Memories of a Nation

Wenn es einen Beweis gibt, dass der Blick von außen nicht nur überaus wichtig ist, sondern auch Erkenntnisse mit sich bringen kann, die die eigene Befangenheit verstellt, dann ist es Neil MacGregors Buch über Deutschland. Genauer, Germany. Memories of a Nation (Deutschland. Erinnerungen einer Nation). Da ist ein Historiker unterwegs, der sein Fach beherrscht, einen distanzierten Blick hat und emotional nicht durch die Debatten traumatisierte wurde, die eine derartig wechselhafte Geschichte wie der Deutschlands und allem, was damit verbunden ist, verursacht hat. In insgesamt sechs Kapiteln nähert er sich dem Phänomen, das, verglichen mit seinen Nachbarn und Mitspielern in der europäischen Geschichte, so anders ist. 

Der analytische Coup, den MacGregor dabei vollzieht, ist, dass er nicht einer historischen Chronologie folgt, sondern sich bestimmten Signaturen nähert, die unverbrüchlich mit der deutschen Geschichte verbunden sind. Da bricht einerseits das kulturelle Phänomen dessen hervor, das in unzählige politische Einheiten zersplitterte Gebilde, das zusammengehalten wird von einer Sprache, das sich so schwer tut mit einer Staatsbildung, dabei aber lernt, Partikularinteressen auszutarieren und gerade in seiner Vereinzelung eine ungeheure Resilienz hervorbringt, das mit Revolutionen wie dem Buchdruck aufwartet, das bis in die Moderne leuchtet wie mit der Signatur Albrecht Dürers, das immer wieder in Bezug auf Technik und Organisation Geniales hervorbringt, wo ein Faust mit dem Teufel pokert, eine Käthe Kollwitz im Antlitz des Krieges niedergedrückt wird, der Engel Ernst Barlachs das Gesicht der leidenden Mutter annimmt, die Mutter Courage Brechts alles verliert und dennoch beim Geschäft des Krieges bleibt und der Engel der Zukunft Paul Klees mit Entsetzen auf das blickt, was hinter ihm liegt, das sich philosophisch in Sphären wagt, vor denen anderen graut, das in Abgründe stürzt und sich immer wieder neu formiert und das mit seiner Vergangenheit umgeht, wie es beredter als die Berliner Architektur nicht zum Ausdruck gebracht werden kann, wie es aus anderen Perspektiven nur mit Staunen verbucht werden kann ist, das nie vor Fehlern gefeit ist und das immer balanciert zwischen Gewissheit, Großchance und abgründiger Tiefe.

Was MacGregors Arbeit, ja, so sollte man es nennen, was dort so wohltuend hervor bricht, ist die kühle Betrachtung, eher fasziniert, ohne moralischen Zeigefinger, ohne Feindbild, immer mit Sympathie.  Diese Perspektive trägt zu neuen Betrachtungsweisen bei. Und als deutscher Leser kann ich mich nur bedanken, für diesen interessierten, unvoreingenommenen Blick. Er hat tatsächlich noch Horizonte eröffnet, die bereichernd und sogar lehrreich sind. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass ich dieses Buch allen, die immer noch an der Wunde Deutschland lecken, dieses Werk wärmsten empfehlen möchte.

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