Verbrechen und Strafe

Wir bleiben dabei. Schuld und Sühne. Es handelt sich nicht nur um einen Übersetzungsfehler. Verbrechen und Strafe. So hatte es Dostojewski geschrieben. Und auch so gemeint. Für die deutsche Seele reichte das nicht aus. Schuld und Sühne. Das passt besser zum Naturell. Und es ist mitnichten auf die Desaster im 20. Jahrhundert zurückzuführen. Anscheinend war es schon immer so. Vom hinterhältigen Mord am mythologischen Helden Siegfried bis zur heutigen Rede des Bundeskanzlers. Immer ist einer Schuld. Dass da eigenes Handeln zu etwas geführt haben könnte, oder, besser, dass da eigenes Handeln zu etwas führen musste, das muss ausgeschlossen werden. Denn, wenn es nicht so läuft, wie es laufen sollte, dann muss jemand anderes die Schuld tragen. Mal war es der Ritter Hagen, mal waren es die Franzosen, mal die mit dem Dolchstoß von hinten, mal die Juden, dann die Bolschewiken, heute sind es Russen und Chinesen, die Palästinenser kommen gerade noch dazu, und jetzt auch noch das Bundesverfassungsgericht! Wie man es dreht und wendet: einer ist immer schuld. Wir selbst tragen nie Verantwortung dafür, dass etwas so kommt, wie es kommt. Und wie es kommen musste. Es ist, als fänden wir erst statt, wenn das Malheur über uns kommt. 

In einem anderen Punkt herrscht auch noch Einigkeit. Und die wird gerade wieder einmal beschworen. Es ist die Sühne. Und sie ist immer ungerecht. Denn man macht uns klar, dass wir zu sühnen haben. Selbstverständlich für die Schuld anderer. Aber, auch wenn wir gar nichts dafür können, dann aber in Gänze. Wir sühnen für die Untaten der Feinde. Ungerechter geht es nicht. Besser wird es dadurch auch nicht. Wir sind ein Volk der Duldenden und Duldsamen. Daran wird auch jetzt wieder appelliert. Wir dürfen uns nie selbst richten. Das ginge zu weit.

Was wäre das für eine Kalamität, wenn wir nicht nur die zur Rechenschaft zögen, die für die jetzige Situation verantwortlich sind, und zwar die in unserem direkten Auftrag? Sondern wenn wir noch weiter gingen und uns selbst fragten, was wir eigentlich gemacht haben, als alles begann? Seit dem Ende der Geschichte, wie es so trunken formuliert wurde. Als eine Krise die nächste ablöste. Als mal das Spekulantentum das Feuer entfachte, einen anderes mal der Überfall auf andere Völker,  aus Motiven, die keiner so richtig kannte, als dort die Feuerherde nie erloschen und Millionen Menschen umkamen oder flüchteten? Wo waren wir da? Welche Serie haben wir geschaut? Welchen Urlaub haben wir gerade gemacht? Und welche Ausrede hatten wir, als man uns die Rechte nahm, die als unveräußerlich galten? Ach ja, da waren wir glücklich im Home Office und ruinierten unsere eigenen Sozialsysteme.

Die Kette von Krisen und Kriegen, die wir mit unserem Handeln über andere gebracht haben, die schnalzt jetzt mit ungeheuerer Wucht durch die Luft und droht uns schmerzlich zu treffen. Jetzt wird deutlich, was es heißt, in einem System der Dominanz über andere Verantwortung zu übernehmen. Selber verantwortlich für das, was jetzt kommt, ist natürlich hierzulande wieder niemand. Zu sühnen haben es vor allem diejenigen, die am wenigsten an den Handlungen beteiligt waren, für die nun die Rechnungen präsentiert werden. Es geht, wie immer, nicht um Schuld und Sühne. Nein, ganz weltlich, und wie der kluge Dostojewski es formuliert hat, es geht um Verbrechen und Strafe.