Zur Lage der Nation: Zwischen Amok und Schockstarre

Um in der Sprache unserer wirtschaftlichen Hemisphäre zu bleiben: wenn das Obligo an Bedeutung verliert, ist das allgemeine Paradigma in der Krise. Wenn sich niemand mehr an Soll und Haben ausrichtet, sondern gerade macht, was ihm gerade in den Kram passt und sich lediglich an die Terminologie der Ordnung hält, aber nicht an ihren Geist, dann wird deutlich, wohin die Reise geht. Zunächst in die Beliebigkeit. Sie wiederum führt bei allen Beteiligten, die glauben, die Ordnung hätte noch ihre Gültigkeit, zu großer Verwirrung. Sie werden sich fragen, wie es denn sein kann, dass die Protagonisten des Systems auf die Grundsätze der eigenen Regeln pfeifen und jede noch so erratische Tat als systemkonforme Aktion deklarieren. Sie bleiben erstaunt zurück und brauchen lange, bis sie begreifen, dass längst ein neues Spiel vor sich geht. Welches, das kommt erschwerend hinzu, keinen Namen hat, denn käme es mit einer exakten Bezeichnung einher, dann wäre das ein Grund zur großen Empörung, wenn nicht sogar zum Aufstand. Aber so weit sind wir noch nicht.

Diejenigen, die aber am Spieltisch sitzen und stillschweigend in gegenseitigem Wissen das offizielle Reglement hinter sich gelassen haben, zwinkern sich kaum sichtbar zu. Sie glauben, sie kämen mit ihren Finten durch. Und bei jedem Schritt, der die Möglichkeit eröffnet, dass der große Betrug doch irgendwann auffliegt, werden sie einerseits immer verwegner mit den öffentlichen Begründungen ihres Handelns, bei gleichzeitig wachsender Fahrigkeit. Wer weiß, dass das Spiel mit dem eigenen, schnellen und unrühmlichen Ruin enden kann, riskiert alles, was nur eine winzige Möglichkeit des Überlebens suggeriert, um die eigene Haut zu retten. Gleichzeitig steigt die Angst ins Unermessliche und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die ersten unglücklichen Akteure in einem Amoklauf Erlösung suchen. Das Stadium ist mittlerweile erreicht und jeden Moment können wir durch derartige Episoden seitens der Protagonisten wachgerüttelt werden. 

Was alle bereits in Alarmbereitschaft versetzen sollte, ist die wachsende Anzahl der Verzweiflungstaten auf Seiten des Publikums. Da werden unschuldige Mitbürgerinnen und Mitbürger von außer Rand und Band geratenen armen Seelen beim Verrichten alltäglicher Dinge wie aus dem Nichts getroffen und hauchen ohne erkenntlichen Sinn ihre Existenz über dem nächsten Gully aus. Die offizielle Interpretation führt nie zum Kern der Sache, sondern da handelt es sich immer nur um individualpsychische Deformationen, die zu einem Gewaltausbruch geführt haben. Dass da ein jahrelanger kalter Wind die soziale Existenz abgetragen hat oder die permanente Entwürdigung den letzten Rest an Zuversicht zerstört hat, gehört nicht ins Forschungsfeld. Und dass auf der anderen Seite das folgenlose Treiben derer, die sich an nichts mehr halten, zu einem Destruktionsrausch führen kann, gilt als gesicherte Erkenntnis, dass es sich bei einer solchen Erklärung nur um eine Verschwörungstheorie handeln kann.

Es setzt kein besonderes Feingefühl voraus, dass ein zunehmend aus der Fassung geratendes Publikum und ein täglich verwegeneres Vabanquespiel seitens der Protagonisten zu nichts Gutem wird führen können. Die einen laufen Amok, die anderen schießen bereits am Spieltisch mit dem Revolver in den großen Kronleuchter. Die Vorahnung einer neuen Art der Apokalypse trägt ihren Teil dazu bei, dass viele Zeitgenossen in einer Schockstarre verharren. Egal, es wird turbulent, soviel ist sicher. 

Ein Gedanke zu „Zur Lage der Nation: Zwischen Amok und Schockstarre

  1. Pingback: Zur Lage der Nation: Zwischen Amok und Schockstarre | per5pektivenwechsel

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.