9. Schnittstellen aus den Germania-Filmstudios
Schnitt: Ein ondulierter, schwäbelnder jung-dynamischer Wirtschaftsminister tritt in obligatorischer Boss-Konfektion ans Pult der Eröffnungsfeier der Interieur-Messe Ambiente zu Frankfurt am Main und beklagt sich in larmoyantem Ton über die Undankbarkeit der DDR-Regierung im Hinblick auf eine in Aussicht gestellte Währungsunion. In verzweifeltem Unverständnis schüttelt der Wirtschaftsminister den Kopf, dass man drüben nicht begreife, dass die D-Mark, stabilste Währung der Welt, nicht als Erlösung von allem Übel und Lösung aller unbeantworteten Fragen verstanden wird.
Schnitt: Ein glatzköpfiger, mit seiner exaltierten Großkotzigkeit und ob seiner politischen Vergangenheit an einen dubiosen Barbesitzer erinnernder NATO-Generalsekretär mit einer geschenkten Villa in Florida sitzt, im legeren Nadelstreifen von Boss, in seinem Brüsseler Arbeitszimmer, posiert vor der Taschenbuchausgabe der Fischer Weltgeschichte und kommentiert die Entwicklung der Deutschland-Frage aus seiner ihm eigenen NATO-Perspektive. Auf die Frage des Journalisten, was er zu der von vielen Deutschen hüben wie drüben erhobenen Forderung denke, nach einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten alle fremden Truppen abzuziehen, bleibt er keine Erwiderung schuldig. Ja, so der NATO-Gigolo, das sei ganz hervorragend, auch er trete für den sofortigen Abzug aller fremden Truppen vom heutigen Territorium der DDR ein.
Schnitt: Ein großer, graublonder Ex-Minister der Finanzen, heute der der Verteidigung, Schuhgröße 48, steht, im Gegensatz zu den Zeiten der Kieler Affäre, lässig eine Hand in der Tasche seines großzügig geschnittenen Anzuges der Firma Müller-Wipperfürth, in irgendeinem Foyer und züngelt mit holsteinischem Akzent seine Vorstellung ins immer präsente Auditorium, er könne sich gut vorstellen, dass nach Auflösung der Nationalen Volksarmee die Bundeswehr auf dem Gebiet der DDR stationiert sei und operiere.
Schnitt: In einem Interview vor seiner Stuttgarter Staatskanzlei rät der mondäne Ministerpräsident des mittelständischen Baden-Württemberg, ehemals Amtmann in Bietigheim-Bissingen und Mitarbeiter der Neuen Heimat, in braunen Boss-Zwirn gehüllt, der Regierung der DDR, es sei endlich Zeit, bedingungslos zu kapitulieren. Notabene! Seine ansonsten übliche Metaphorik aus der Hightech-Terminologie bleibt zunächst in der Mottenkiste.
Schnitt: Der einhundertdreißig Kilogramm schwere Bundeskanzler ist überall präsent, redet von der Sicherheit aller Beteiligten, der UdSSR, Polens, der Tschechoslowakei und der westlichen Staaten sowieso, garantiert die Sparguthaben in der DDR, die Renten, die Arbeitsplätze, spricht von Soforthilfen für die DDR und macht – nichts. Wartet, etwas unruhig an seinem im Maßatelier Blacona zu Ludwigshafen geschneiderten Anzug auf den Offenbarungseid unserer Brüder und Schwestern im Osten.
Schnitt: Der dienstälteste und weitgereisteste Außenminister der Welt, der vom Hallenser zum Wuppertaler avancierte Hans-Dietrich Genscher, teilt seinen westlichen Amtskollegen bei einem Treffen in Ottawa in der Lounge seines Hotels mit, man werde bei den deutsch-deutschen Einigungsgesprächen die vier Siegermächte beteiligen. Über Grenzfragen werde erst nach der Großfusion nachgedacht.
Schnitt: Antje Vollmer, die Pastorin aus Brackwede und prominente Sprecherin der Grünen, erklärt fragenden Journalisten mit bebender Stimme, der immer noch beängstigende Zustrom von Übersiedlern aus der DDR in die Bundesrepublik sei nicht mehr auf eine zu späte Vereinigung zurückzuführen, sondern, ganz im Gegenteil, die Furcht vor Rechtlosigkeit und Ausplünderung im Osten und die Flucht auf eine Insel minimaler Rechtssicherheit. Die Strickjacke von Hagemeyer fügt sich farblich in den bedrückenden Zustand ihrer Sichtweise ein.
Schnitt: Gorbatschow-Berater Portugalow, Deutschland-Experte, der sich nicht zufällig in Bonn aufhält, steht der deutschen Presse Rede und Antwort. Er erscheint in einem zigarrenfarbigen Zweireiher aus feinstem Leningrader Stoff und pariert jede Frage in brillantestem Deutsch. Auf die, welche seine Einschätzung der Politik der Bundesregierung einfordert, liefert er ein gestochenes Bild. Die Bundesregierung, so Portugalow, komme ihm vor wie jemand, der einen Sechser im Lotto gehabt hätte und dann mit dem Gewinn in die Spielbank nach Baden-Baden fahre und dort die gesamte Summe aufs Spiel setze.

Pingback: Und der Zukunft zugewandt? Frühjahr 1990/Schluss/9 | per5pektivenwechsel