7. Laboratorium Deutschland
Dass es sich beim Menschen um ein soziales Wesen handelt, gilt als anthropo-historisches Axiom. So weit unser kollektives Gedächtnis reicht, war der Mensch als Gattungswesen in sozialen Verbänden assoziiert. Abhängig von Beschaffenheit, Rechtsverhältnissen und dem Niveau der Produktivkräfte, unterlag die soziale Organisation der menschlichen Sozialordnungen einem ständig beschleunigten Prozess der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung.
Historisch betrachtet ist es sinnvoll, diese Entwicklung in verschiedene Klassifizierungen zu fassen. Nomadisierende Stämme, sesshafte Agrar- und Jagdgesellschaften, Manufaktur und Handel betreibende Gesellschaftsformationen, imperiale Raubgesellschaften bis zur Herausbildung komplexer Nationalstaaten, die in ihrem Facettenreichtum auch diachron den Platz für historisch unterschiedliche Produktionsweisen bieten. Es ist keine Frage, dass die moderne Nationalstaatlichkeit als historischer Entwicklungsstufe den Globus spätestens seit der Französischen Revolution bis zum heutigen Tag am meisten in Atem gehalten hat. Sie wurde von den Akteuren der sozialrevolutionären Umgestaltung der modernen Massengesellschaften zumindest als günstige Vorbedingung für ihr Unterfangen rezipiert.
Durch ihre geographische Begrenztheit, ethnische Besonderheiten und der daraus zumeist folgenden identischen Sprachsphäre, der dadurch wiederum charakteristischen Produktionsweise, der sozialen Organisationsform und ihrer kreativen Reflexion im künstlerischen, philosophischen und politischen Bereich, bildeten sich historische Formationen, die allgemein als Nationalstaaten und/oder als Kulturnationen bezeichnet werden.
„Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht…“ Meinte Heine mit dieser Bemerkung das reaktionäre, despotische, imperialistische Deutschland, dessen Triebe noch bis in unsere Zeit hineinreichen, so muss die nächtliche Unruhe in Anbetracht der Ereignisse in der DDR neu, quasi als produktive Unruhe, gedeutet werden. Natürlich können vierzig kurze Jahre die Sozialisation der deutschen Nation nicht annullieren. Natürlich gibt es immer noch die deutsche Sprache, die Kultur, die Philosophie. Aber, und dies ist entscheidend, es gibt zwei souveräne deutsche Staaten und es existieren in beiden Majoritäten, die eine Wiedervereinigung ad hoc ablehnen.
Die Brisanz der deutschen Entwicklung hat ihre Wurzeln in dem Auflösungsprozess zwei verschiedener teil-nationalstaatlicher Systeme, deren Besonderheit allerdings nur darin besteht, dass beide in der Tradition systemaren Hegemonialstrebens stehen. Durch die Internationalisierung der Ökonomie muss weltweit zumindest eine Aufweichung der Nationalstaaten konstatiert werden. Das Postulat nach einem deutschen Einheitsstaat zu diesem Zeitpunkt hingegen ist deplatzierte Romantik in einem irreversiblen Prozess.
Die historische Chance, die sich in Deutschland zur Zeit wie in einem Experimental-Laboratorium bietet, ist der Aufbau einer konkordanten Demokratie, in denen Besitz- und Rechtsverhältnisse zur Debatte stehen, deren Lösung aber nicht durch gewalttätige Intervention herbeigeführt wird. Es kann und muss danach gesucht werden, wie die Internationalisierung der Gesellschaft, respektive die Auflösung antiquierter Nationalstaatlichkeit begangen und wie die Liquidation staatlicher Organisationsgewalt betrieben werden kann. Die Stunde frei assoziierter Individuen könnte zu schlagen beginnen…

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