Meinungsmache: Wie ein Blick in den Spiegel

Kennen Sie das? Das Gefühl, Menschen gegenüber zu sitzen, die Sie seit langem kennen, mit denen Sie vieles verbindet, mit denen Sie sich meistens gut verstanden haben und mit denen Sie sich, bei Bedarf, trefflich streiten konnten. Diese Menschen, sie sitzen Ihnen plötzlich mit betretener Miene gegenüber, sie vermeiden den Blick und antworten auf etwas, das Sie gesagt haben, mit einer nichtssagenden Floskel. 

Ursache dieser Verstörung ist eine Bemerkung Ihrerseits. Zumeist ist es eine eindeutige Stellungnahme zu einem Ereignis oder einer Erscheinung von politischer und gesellschaftlicher Bedeutung. Eigentlich eine profane Angelegenheit. Hatten Sie doch gerade mit dem Menschen, der Ihnen gerade gegenübersitzt, schon oft über solche Angelegenheiten diskutiert. Oft waren Sie einer Meinung, manchmal auch nicht. Ihr Verhältnis zueinander hat auch ein Dissens nicht belastet. Ganz im Gegenteil, sie liebten es sogar, sich ab und zu gegenseitig die Leviten zu lesen. 

Und jetzt, nicht plötzlich, aber seit einiger Zeit, ist das Feuer des demokratischen Streits erloschen. Es riecht sogar überall ein bisschen nach Menschenfleisch. In übertragenem Sinne, versteht sich. Aber der Diskurs, der über Parteigrenzen hinweggehen mag, ist tot. Plötzlich existiert eine herrschende Meinung, die man zu teilen hat, sonst wird man aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Dann hat man plötzlich ein Brandmal auf der Stirn, das da besagt: Sie haben es mit einer Person zu tun, die mit Verschwörungstheorien sympathisiert, die schwurbelt, die mit Todfeinden gemeinsame Sache macht oder die schlicht den Verstand verloren hat.

Was verstört, ist die Durchlässigkeit dieser Herrschaftsdemagogie. Denn selbst in Kreisen, in denen der Diskurs und das freie Wort immer geschätzt wurde, ist plötzlich Schluss mit Lustig. Nein, da hört der Spaß auf. Denn Positionen, denen die Machtandrohung innewohnt, die dürfen natürlich weder hinterfragt noch bekämpft werden. Die sind sakrosankt. Und je dümmer und je apodiktischer sie formuliert werden, desto besser. Nein, niemand beabsichtigt hier eine Mauer zu bauen. Sie ist längst errichtet. Und wer sie nicht sieht, hat das Licht der Erkenntnis bereits verloren.

Das Konstrukt der Vernebelung ist schlicht und ohne sonderliche Finesse erdacht. Es beruht auf schlichter Dauerbeschallung und Wiederholung. Die armen Konsumenten von Nachrichten und Kommentaren werden solange mit den Plattitüden vollgekotzt, bis sie sich von allem abwenden und sich vor sich selber ekeln. Und selbst diejenigen, die das Spiel durchschauen, haben die Selbstachtung und Haltung verloren, die erforderlich wäre, sich diesem ganzen Unrat aus Betrug und Lüge, aus Dilettantismus und Beschönigung in den Weg zu stellen und ein lautes Nein entgegen zu schleudern. 

Angesichts dieser geistigen Verfassung mutet es schon wieder an wie eine gelungene Sentenz aus einer bissigen Satire, dass man den Verhöhnten Erzählungen über die Propaganda autoritärer Regime auftischt, um ihnen das Gefühl zu vermitteln, sie seien noch einmal davongekommen und das hiesige Dasein sei ein sicherer Hafen. Die Techniken, die eine Einheitsmeinung bewirken sollen und die zum Ziel haben, jede Form des Widerspruchs zu eliminieren und die nicht Bekehrbaren auszugrenzen, stammen allesamt aus dem Arsenal autoritärer Regime. Man hat sie übernommen und wendet sie in größter Perfektion selbst an. 

Was diese Techniken der Kommunikation und Meinungsmache bewirken, ist allerdings nicht vorgesehen. Es ist wie ein Blick in den Spiegel! Wird erst einmal deutlich, dass das autoritäre Regime zunehmend den eigenen Verhältnissen ähnelt, radikalisiert sich die Vorstellung darüber, wie die Verhältnisse zu ändern sind. Die ewigen Zyniker nennen so etwas Dialektik. 

3 Gedanken zu „Meinungsmache: Wie ein Blick in den Spiegel

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  2. Avatar von BludgeonBludgeon

    Wie so oft – hier in diesem Blog: Voll auf die 12!

    Das ist so perfekt auf dem Punkt!
    Was haben wir im Osten früher den Westen bestaunt, wie sich da die Parteien fetzten, welche Widerstände ausgehalten, absorbiert, beseitigt wurden!
    Wie sich Regierungspolitik von Kanzler zu Kanzler änderte.
    Wir saßen in bleiernen Zeiten fest – und „drühm“ war das System lebendig.
    Mist passierte da auch – aber nicht soviel wie bei uns. Die freiräume waren größer.
    Sie sind es NOCH.
    Das schleichende Gift der Verengung des Sagbaren, bei gleichzeitigem medialem Vorwurf, dass angeblich die Tabus der Diskussion geschreddert würden durch böse Populisten – wirkt.
    Du hast wieder eine Meinung für „dienstlich“ und eine für „privat“.
    Frau Göring Eckard, die ehemalige bürgerrechtlerin, leugnete dies jüngst bei „Hart aber fair“ – und merkte nicht, dass sie nun in der Rolle von Kurt Hager angekommen war.

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