Es wird viel geklagt. Vielleicht gehört dieses Land, vor allem im Vergleich zu den existierenden Lebensbedingungen, zu den waren Champions der Klage. Es existieren teilweise tatsächlich grausame Verhältnisse in diesem Land. Es gibt aber auch, immer noch, ein im großen und ganzen funktionierendes Gemeinwesen. Das ist nicht überall so auf der Welt. Und da sind zahlreiche Länder, die ihrerseits Lichtjahre von den Standards entfernt sind, die hierzulande herrschen. Und dennoch trifft man dort massenweise Menschen, die guter Dinge sind und an die Zukunft glauben. Und vielleicht ist das ein Grund, warum die Klage seit langer Zeit zum Massenphänomen geworden ist. Es wird, trotz halbherziger Verweise und trotz dilettantischer Versuche, auf keine Zukunft hingearbeitet. Es wird verwaltet. Und ein Bild von der Zukunft nimmt keine Gestalt an, weil der durch Sensationsjournalismus und öffentliche Inquisition kontaminierte öffentliche Diskurs sich in Verletzungen und Symbolismen verliert. Das Resultat formuliert nahezu jeder Gesprächspartner: Alle sind schlechter Dinge, aber niemand macht etwas.
Die Befindlichkeit, schlechter Dinge zu sein und dennoch nichts zu tun, was die Verhältnisse besser macht, resultiert vielleicht aus einer massenhaft verbreiteten Gefühlslage, die tief unter den oberen Schichten der aktuellen Zeit immer noch schlummert. Es ist das Relikt aus der rheinischen Republik, das da lautet: Es hätt noch immer jut gejonge. So schlimm, wie wir es jetzt sehen, wird es wohl doch nicht werden. Da wird der Pessimismus konterkariert von einer jahrzehntelangen Erfahrung, dass nichts so schlimm kommt, wie prognostiziert.
Und vieles spricht auch für diese Sichtweise. Was hat das Ozonloch die Gemüter bewegt und welche Untergangsarien wurden angesichts dessen gesungen, wie wurde um den deutschen Wald getrauert, wie sehr hatte der Borkenkäfer unser Biotop bedroht und wie bedrohlich sind die Dieselverbrenner gewesen und bei Corona ist die Welt noch einmal von der Schüppe gesprungen. Die Liste ist lang, die Anlässe waren diskussions- und aktionswürdig, aber die Dystopie wurde nicht zur Realität.
Nimmt man diese eine Sache einmal beiseite, die letztendlich eindeutige nachhaltige Wirkung auf die Gesellschaft hatte: jedes dieser Ereignisse hat, neben der kollektiven Hysterisierung, auch zu einer Entmündigung geführt. Das verantwortliche Handeln des Einzelnen und der verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenschlüsse wurde ersetzt durch einen in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens intervenierenden Staat. Die Vorstellung, dass Recht und Gesetz der Rahmen sind, der die Menschen motiviert, eigenständig zu handeln, wich dem Prinzip von Regel und Sanktion. Das Ergebnis ist die Entmündigung. Sie ist die Ursache für die Passivität.
Alle genannten Faktoren, die Unzufriedenheit mit den jetzigen Zuständen, der finstere Blick in die Zukunft wie das maulende Unbewußte, dass sich doch vielleicht alles zum Guten wenden werde, haben zu einem Zustand geführt, der, genau betrachtet, an der Oberfläche wie Bräsigkeit wirkt, aber durchaus Arsenale birgt, die zu einer gewaltigen Explosion führen können. Churchill, scharfer Beobachter wie Zyniker, brachte das einmal ganz gut auf den Punkt. Man hat die Deutschen, so formulierte er es, entweder an der Gurgel oder zu Füßen.
Betrachtet man die gegenwärtige Gemütslage genau, so hat sich an der Disposition nichts geändert. Momentan sind wir zu Füßen. Bleibt die Frage, wem geht es an die Gurgel? Und, wird es so verheerend wie gewohnt?

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