Rotterdam

Rotterdam. Delfshaven. Nur wenige Kilometer vom späteren und heutigen Zentrum, in dem Ossip Zadkines Skulptur der verwüsteten Stadt immer noch herzlos auf die deutschen Bomben verweist und dennoch ein neues, buntes Gesicht zeigt, entfernt. Von dort weiter Richtung Meer. Hier fing alles an. Der große Transfer über die Ozeane. Der alte Mittelpunkt ist heute das Domizil der Zurückgespülten. Sie kamen mit den Kolonien und den Schätzen. Aus Indonesien, Surinam, Aruba, Bonaire, Curacao, Sint Maarten, Ghana, Brasilien. Die Liste ist lang. Voll beladene Schiffe aus aller Welt. Heim ins Reich der protestantischen Ethik. Und der Lehre vom Geld. Die Menschen, die nachkamen, sitzen hier in den Kneipen, überall ein leichter Hauch von Cannabis, dazu guten Kaffee, ein leichtes Bier oder, wenn der Tag und das Portemonnaie es zulassen, ein Gläschen Genever. 

Auf den Straßen diejenigen, die sich selbst die Braunen nennen, in den Lumpen der Moderne. Trainingsanzüge, Turnschuhe, gigantische Kopfhörer. So sehen Fußballstars aus, die in einer Woche Millionen verdienen und die Nachkommen des Strandguts aus den Kolonien. Sie gleichen sich aus der Ferne. Nur der Preis für die Lumpen geht weit auseinander. Mütter, die, mit Einkäufen beladen, ihre Taschen absetzen und auf den Straßen mit ihren Kindern spielen. Die meisten, die hier in Delfshaven angekommen sind, sprechen heute Niederländisch. Viele beherrschen die Sprachen ihrer Herkunft nicht mehr. Nur noch das eine oder andere Wort, wie Erkennungscodes. 

Ein kleiner Fleck an einer Bucht des großen Flusses zeigt in der Sonne das Klischee eines lieblichen Hollands. Gepflegte Häuschen, putzige Gastronomie, ein Café mit veganen Angeboten. Der Rest wirkt Britisch. Lange Häuserreihen, gleiches Maß, gleiches Antlitz, rote Ziegel. Alles gut in Takt, sogar gepflegt. Die Nachkommen aus den Kolonien sind im Kraftzentrum der Bewegung angekommen. Man ist unter sich. Diejenigen, die von dem gewaltigen Import profitierten, leben woanders. Flussaufwärts, unter einer Skyline, wie sie die Moderne hervorbringt. Beton, Stahl, undurchdringliche, weil spiegelnde Fassaden, Kälte, Macht. Delfshaven, das ist das alte Europa ohne Europäer. Dort lebt das Frachtgut der Kolonien. Selamat soré, Saudara. Man sieht sich. Und irgendwann werden sie hier alle liegen. Skelett an Skelett, aus allen Richtungen dieser Welt. Der Tod braucht keine Heimat.

Weiter Richtung Meer. Die Topographie ist der Schlüssel zur Begierde. Zuerst ein Pier, an dem die Sklaven ankamen. Heute ein Denkmal, das nackte Menschen zeigt. Sie mühen sich zum aufrechten Gang, die Ketten abstreifend. Die ersten von ihnen kamen aus den Antillen. Heute sollen 80.000 ihrer Nachfahren alleine in Rotterdam leben. 

Weiter flussabwärts. Lagerhallen. Orangen, die zu Saft verarbeitet werden, Depots mit Chili, und dann Schiedams Schapsbrennereien. Menschenfleisch, Orangensaft, Chili und Schnaps. Die Geschichte des Kolonialismus auf wenigen Kilometern. Billige Arbeit, exotische Gaumenfreuden und Rausch. Waren das die Motive? Oder war es die zufällige Anordnung dessen, was man fand? Um die Trivialität zu zeigen? Das Genüßliche, das Raubtierhafte? 

Dann eine Insel. Mit einem kasernenartigen Gebäude. Gebaut für Seeleute, die als weiteren Schatz unbekannte, höllische Krankheiten mitbrachten. Bevor es Antibiotika gab, kamen sie in Quarantäne. Das Krematorium ist vom Fluß aus nicht zu sehen. Der Glanz wirft lange Schatten. 

Weiter, viel weiter, fast im Meer, die modernen Docks. Für Containerschiffe, die bis zu 25.000 Stück dieses neuen internationalen Maßes tragen können. APM-Maersk, MSC, COSCO, Hapag- Lloyd, Ocean Network Express, Evergreen Marine. Rotterdam ist der 11. größte Hafen der Welt. Vor ihm liegen sieben aus China, sowie Singapur, Busan und Dubai. Täglich lauern an der Küste Südhollands tausende von LKWs auf die Fracht, um sie in den Bauch Europas weiter zu transportieren. Am Steuer die neuen Sklaven.  

Immer eine leichte Brise im Rücken, so wie es der Westen liebt, geht die Fahrt zurück Richtung Zentrum. Vorbei an den Marksteinen der Seefahrt. Die alte Überseeschönheit, das Passagierschiff Rotterdam, ist heute ein Hotel für gut Situierte, mit einigen Bars und Clubs an Bord. Sie ankert vor einem alten, damals von Chinesen bewohnten Bordell- und Spielhöllenviertel, in dem sich gut durch die beschaulichen Grünanlagen flanieren lässt. Dann das historische Bürogebäude der Holland Amerika Lijn, heute das etwas angemoderte Hotel New York, mit einer Schwemme im Parterre, in der ein Duft von Fisch und Knoblauch hängt, und einem Restaurant für Exklusive nebst einer Bar mit erlesenen Spirituosen im Souterrain. Es folgen alte, umgebaute und in stand gesetzte Lagerhallen, Celebes, Borneo, Sumatra, Java. Doch es riecht nicht mehr nach Nelken und Muskat. Ketten verbreiten Pizzageruch und den Scent von Hamburgern. Hypermoderne Architektur, Tunnels, Untergrundbahnen. Das Boot legt an, die Geschichte wälzt sich weiter.      

Ein Gedanke zu „Rotterdam

  1. Pingback: Rotterdam | per5pektivenwechsel

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.