Vor kurzem kam mir eine Episode in den Sinn, die sehr lange zurückliegt und die meine Erinnerung wahrscheinlich erreichte, weil ich zur Zeit über die eine oder andere Analogie stolpern musste. Es war in der katholischen westfälischen Provinz, in der ich aufwuchs. Trotz einer nicht mit den heutigen Verhältnissen vergleichbaren Abgeschiedenheit erreichten uns dennoch Nachrichten über das Weltgeschehen und wir, d.h. die Jungen, die unter den Verhältnissen litten, sogen begierig alles auf, was in anderen Winkeln dieses Planeten geschah. Und da war von einer großen Hungersnot die Rede, die gerade Teile des indischen Subkontinents quälte.
Wir beschlossen, etwas unseren Möglichkeiten Entsprechendes zu tun und begannen Geld zu sammeln, um es dann an eine der Hilfsorganisationen zu überweisen, die dazu aufriefen, den hungernden Menschen zu helfen. Und, vielleicht naiv, wie wir waren, wir stellten uns an einem Sonntag vor die Kirche und riefen zum Spenden auf. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Manche der Kirchgänger zeigten sich emphatisch und zückten ihr Portemonnaie, andere raunzten uns an und empfahlen, uns um unsere eigenen Dinge zu kümmern und lieber in der Schule fleißig zu sein und wieder andere huschten an uns vorbei, als sei ihnen die Aufforderung, sich zu verhalten, peinlich.
Eine Begegnung jedoch ist mir seitdem nicht aus dem Gedächtnis gewichen. Nach dem Gottesdienst erschien der diensthabende Pfarrer und sprach mich mit einem Lächeln auf den Lippen an. Er fragte, warum wir diese Aktion machten, erkundigte sich sehr genau nach den Motiven und den Modalitäten der Weitergabe des Geldes und lobte uns für die aus seiner Sicht christliche Haltung. Doch dann verfinsterte sich seine Miene und er begann zu fragen, warum wir uns um die Angelegenheiten in einem so fernen Ort kümmerten und nicht das Elend sähen, das direkt vor unserer Haustüre stattfände?
Etwas irritiert sah ich ihn an und fragte, was er meine, ob bei uns in der Nähe auch Menschen hungerten oder anderes Elend zu ertragen hätten? Prompt schilderte er mir Verhältnisse, von denen ich kaum glaubte, dass sie „vor unserer Haustüre“ in dieser Form existierten. Er sprach von dem Verbot, dass Menschen ihre angestammte Sprache benutzten, er sprach von polizeilichem Terror, er sprach davon, dass Menschen ihrem Glauben nicht nachgehen durften und dass viele unter unmenschlichen Bedingungen in Gefängnissen säßen, weil sie sich diesen Regeln nicht unterwerfen wollten.
Als ich ihn fragte, was man denn dagegen machen könne, denn mir ging schnell auf, dass es mit einer Geldsammlung wohl nicht getan sei. Nein, antwortete er mir, man müsse dagegen ankämpfen, und das täten die Menschen dort auch. Und dass sie Geld bräuchten, um die Waffen, die sie dafür haben müssten, bezahlen zu können. Ich wurde immer verwirrter, weil ich erstens von Verhältnissen, von denen er redete, „in der Nähe“ noch nichts gehört hatte und zweitens verstörte mich die Frage, warum mir ein Priester empfahl, Geld für Waffen zu sammeln.
Nach einigem Zögern traute ich mich dann doch, den guten Mann zu fragen, wovon er eigentlich rede? Wo war denn das Gebiet, von dem er erzählte, und wer waren die Brüder und Schwestern, von denen er berichtete und die mit der Waffe in der Hand gegen die Verhältnisse kämpften?
Dann nahm er mich in den Arm und sagte, ich rede von Irland, mein Sohn. Und die Brüder und Schwestern, von denen er sprach, damit meinte er die IRA.

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Soso! Ein braver Gottesmann. Mögen die Heiden verhungern, Hauptsache der wahre Glaube sieht.
Siegt
Dein Wort zum Sonntag 😉
„Give Ireland back to the Irish!“ – Sir Paul McCartney. Den Irlandkonflikt hab ich auch erst kapiert, als ich da war. England hat da im großen Stil irisches Land verschenkt an englische/schottische Siedler, dass eigentlich noch irische Eigentümer hatte, die aber im engl. Knast saßen oder gerade erst frisch erschossen waren in der großen Erhebung, die zur Unabhängigkeit des größten Teils der Insel führte. Darüber macht bis heute niemand einen Kontext erhellenden Film. Immerzu wird das NUR auf „Religionskonflikt“ heruntergedimmt. Dabei geht es um Reconquista.
Und diese alte Wunde aus den 20er Jahren suppt und suppt.