Bei der Betrachtung internationaler Politik ist man gut beraten, sich von Illusionen zu befreien. Nicht, dass es immer willentlich geschieht, aber sehr oft doch. Die Repräsentanten von Staaten haben immer die Verantwortung, was in ihrem Namen und bei der Verfechtung ihrer Interessen geschieht. Dass dabei auch Menschenleben geopfert werden, gehört zum Geschäft. Manchmal sind es reine Risikoabschätzungen, manchmal sind es bewusste Aktionen wie kriegerische Handlungen. Aber zu glauben, Staatsoberhäupter hätten mit dem gewaltsamen Tod von Menschen nichts zu tun, ist eine Wunschvorstellung. Das war immer so, unabhängig von dem politischen System, das sie repräsentieren. Man kann es bedauern, aber es ändert nichts an der Sachlage.
Dass ausgerechnet ein Vertreter einer mit dem Anspruch auf Weltherrschaft verquickten Landes wie der amerikanische Staatspräsident, dessen Land in unzählige militärische Operationen verstrickt ist, einem anderen Präsidenten, in diesem Falle dem Russlands, vorwirft, er sei ein Killer, ist eine dramaturgische Überspitzung. Wenn man so will, hat er etwas, das man ihm auch vorwerfen könnte, seinem Pendant vorgeworfen. Da die Tatsache insgesamt nicht sonderlich populär ist, war der Effekt groß und die Reaktion darauf zu erwarten. Das Resultat war der Abzug resp. Die Ausweisung der jeweiligen Botschafter und eine weitere Verschlechterung der ohnehin schlechten Beziehungen. Dem russischen Präsidenten ist zugute zu halten, dass er sich nicht zu der öffentlichen Replik verleiten ließ, Biden sei auch ein Killer.
Die Offerte aus Washington, sich aufgrund des dramatisch schlechten Verhältnisses beider Länder, das nicht auf dem Killer-Vorwurf, sondern aufgrund unterschiedlicher Interessenlagen geopolitischer Natur beruht, sich in Genf zu treffen und auszutarieren, wie man wieder ins Gespräch kommen könnte, wurde als ein gutes Zeichen und als eine feine Initiative des us-amerikanischen Präsidenten in den Presseorganen des Westens gewürdigt.
Man traf sich und beide Seiten ersparten es sich, an dem auch verbal konfrontativen Duktus festzuhalten. In einem dreistündigen Gespräch gelang es den beiden Staatsoberhäuptern, die Konfliktzonen zu benennen, ohne übereinander herzufallen. Das, so dürftig es klingen mag, war der eigentliche Erfolg: Es existiert nun eine Agenda, an der abgearbeitet werden muss, inwieweit Verständigungen erreicht werden können und wo die Konfliktlinien, derer es viele gibt, weiter existieren und eventuell auch, wie damit umgegangen werden soll. Die unterschiedlichen Interessen werden bleiben. Die große Aufgabe wird darin bestehen, zwischen den Interessen und der sie transportierenden Weltanschauungen unterscheiden zu können und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Diese Vereinbarung ist sicherlich ein Fortschritt. Erstaunlich ist, dass in der medialen Kommunikation davon relativ wenig die Rede ist, sondern die sich auf dem Feld der Ideologie befindliche moralische Zuweisung von Schuld nach wie vor die Schwingungen bestimmt. Was zudem bei der Interpretation des Geschehenen Schrecken verbreiten kann, ist die Fokussierung der Bewertung seitens der Berichterstattung auf die Wiederherstellung der durch den Killer-Vorwurf verursachten Unterbrechung der diplomatischen Beziehungen. Dabei hatte es sich um ein taktisches Geplänkel gehandelt, das weder konstruktiv noch wahrhaftig war, sondern eher als propagandistische Finte bezeichnet werden muss, deren Resultat eine weitere Verheerung der Beziehungen bewirkt hatte.
Wenn die Revision dieser Aktion als Erfolg bezeichnet wird, die Transparenz der Interessenunterschiede, die zu Protokoll gebracht wurden, jedoch keine Beachtung finden, dann muss man dem Chor der politischen Beobachter keinen Beifall zollen. Da ging das Wesentliche einmal wieder in der ganzen Aufregung verloren. Wie so oft, viel Lärm um nichts.

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„Es existiert nun eine Agenda, an der abgearbeitet werden muss, inwieweit Verständigungen erreicht werden können und wo die Konfliktlinien, derer es viele gibt, weiter existieren und eventuell auch, wie damit umgegangen werden soll.“
Mir kommt das wie ein großes Theater vor. Wie kann man sich mit Jemandem verständigen, der nach absoluter Herrschaft strebt, wenn man selbst für eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe eintritt? Solange die menschenfeindlichen Mächte hinter der US-Politik nicht auf ihren Herrschaftsanspruch verzichten, wird es auch keine für alle befriedigende Verständigung geben. Putin und Biden können zwar so tun, als suchten sie Übereinkunft, aber im Hintergrund bleibt Russland nichts anderes übrig als sich schwer zu bewaffnen. Auf diese Weise lassen sich dann Frontlinien abstecken, eine echte Verständigung erreicht man damit aber nicht.
Durch einen Kommentar beim Anti-Spiegel bin ich gerade auf einen erstaunlichen Artikel der „Washington Post“ gestoßen, der ein wenig Hoffnung keimen lässt.
Zitat:
„Third, the United States needs a deeper shift in our approach to engaging the world. We should recognize we are not the “indispensable nation” and dispense with this obsolete, triumphalist national security paradigm. The new administration would be wise to focus on getting our own house in order by revitalizing our imperiled democracy, rather than continuing to crusade around the world to dictate values we’ve failed to live up to ourselves. Imagine if we reallocated even a fraction of the $778 billion we spent on our military last year to social needs and human infrastructure spending. As Quincy Institute for Responsible Statecraft President Andrew Bacevich told me in a recent conversation, we need a new national security strategy focused on “providing for the security and the well-being of the American people where they live.” This is not isolationism, this is realism.
The collective challenges we face call for a rethinking of how the United States conducts diplomacy not only with Russia but also with the rest of the world. Biden and his team would do well to move forward with humility, caution and restraint — and to avoid falsely conflating those qualities with weakness. As stated last week in an open letter I joined from independent American and Russian women, “new thinking, not new weapons, is the better measure of a valued leader in this time.”“
https://www.washingtonpost.com/opinions/2021/06/15/biden-has-an-opportunity-begin-rebuilding-uss-fractured-relationship-with-russia/
Da kann ich nur sagen: Wow! Die Dame sitzt immerhin im CFR.
Sehr interessant, diese Stimmen mehren sich, bis dato scheint es allerdings so, dass die Entscheider dagegen imprägniert sind!
Ja, leider. Aber wenn man alles betrachtet kann man zu dem Schluss kommen, dass die Entscheider demnächst zum Umdenken gezwungen sind, so sie denn überhaupt dazu fähig sind und nicht lieber alles in den Untergang reißen. 😔