Anklage wegen Doppelmoral mit Todesfolge

Wie aufregend es auch sein mag: es ist immer sinnvoll, zu versuchen, eine Situation zunächst zu beschreiben, bevor sie bewertet oder beurteilt wird. Das fällt besonders schwer, wenn es um das Handeln von Akteuren geht, die alles, was sie tun, nahezu exklusiv mit ihren Werten begründen. Sie sind, bliebe man bei ihren selbst gewählten Worten und Begründungen, quasi der Prototyp derer, die Max Weber einmal die Wertrationalen genannt hat. Nur, bei genauem Hinsehen, fällt das selbst gewählte Kartenhaus sehr schnell zusammen. 

Es ist nicht lange her, da echauffierten sie sich, von einzelnen Vertretern der Bundesregierung, über die propagierte Meinung der Pressemonopole bis hin zur schmückenden Krone der EU-Funktionäre besonders deutscher Provenienz, über das Schicksal des russischen populistischen Politikers Nawalny. Und natürlich waren da die Werte wieder einmal die Folie. Nicht, dass es nichts an den russischen Verhältnissen zu kritisieren gäbe. Aber, wenn jeder, der irgendwie gegen den russischen Staat und seine Organe arbeitet, schon die Qualität mitbringt, um die uneingeschränkte Solidarität der „Wertegemeinschaft“ zu erfahren, auch wenn es sich um jemanden handelt, der aufgrund seiner politischen Aktivitäten hierzulande längst vom Verfassungsschutz beobachtet würde, sind Fragen angebracht.

Analog sind die tragischen Geschehnisse in Bezug auf den Konflikt zwischen dem israelischen Staat und der Hamas zu erleben. Da geht es wieder um Bekenntnisse, die nichts mit tatsächlichen Werten zu tun haben. Anstatt die Lage zu analysieren, um herauszufinden, was dort seit einiger Zeit stattfindet, werden Bekenntnisse verlangt und abgegeben. Dass dort Schwarz-Weiß zu gar nichts führt, wissen sowohl die meisten Israelis als auch die meisten Palästinenser. Es gibt massive Kritik an dem Handeln der Regierung Netanyahu mitten aus der israelischen Gesellschaft, und es existiert eine ernst zu nehmende Opposition gegen das System Hamas im Gaza-Streifen. In einer solchen Situation mit dem Begriff des Antisemitismus permanent um sich herumzuwerfen, disqualifiziert wieder einmal diejenigen, die immer mit ihrer vermeintlichen Bekenntnispolitik im Höllentempo vor die nächste Kamera springen, ohne dass sie irgend etwas zu der Lösung des Konflikts beitragen könnten. Sie spalten und vergiften das ohnehin schon ramponierte Klima.

Und jetzt ist es der belorussische Blogger, Roman Protasewitsch, der, werden die Umstände tatsächlich verifiziert, aus einem Flugzeug, das zur Landung gezwungen wurde, von den Schergen Lukaschenkos aus der Maschine gezerrt und festgesetzt. Wenn es so ist, dann ist es ein Skandal.  Und prompt kommt die Meldung, sind sie wieder alle da und machen das, was ihre Werte ihnen vorschreiben. Sie protestieren, die EU erwägt Sanktionen gegen den gesamten Staat, die Geschütze sind schwer, die da aufgefahren werden. Von stiller Diplomatie ist nichts mehr zu hören, sie ist seit langem erstorben im Sturm der Twitter-Könige, denen die eigene Profilierung wichtiger ist als das Amt, das ihnen auf Zeit von Menschen übertragen wurde, die diesen Zirkus zunehmend nicht mehr ernst nehmen können und sich enttäuscht, verbittert und zunehmend zornig abwenden.

Warum? Weil sich zu den dargebotenen Schauspielen, die sich ins Beliebige ausweiten ließen, noch etwas kommt, das Stück für Stück zerstört wurde und nichts übrig lässt als blankes Entsetzen: Das Vertrauen ist dahin. Während ein Julian Assange, dessen Vergehen es war, als Journalist amerikanische Kriegsverbrechen zu enthüllen, in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis dem Tod ins Auge sieht und dessen Schicksal alle russischen, belorussischen, chinesischen und sonstige Räuberpistolen übertrifft, aufgeführt im Zentrum der reklamierten „Wertegemeinschaft“, im freien und demokratischen Westen, schweigt sich das Konsortium der lauten Empörung aus. Kein Bundesaußenminister, der hektisch twittert, keine EU-Kommission berät über Sanktionen, kein Leitartikel aus den Monopolorganen beklagt den Zustand und keine Fernsehtalkshow widmet sich dem Thema. Grabesstille. 

Das Schicksal von Julian Assange ist die Anlageschrift in einem Prozess, der noch zu führen sein wird. Anklage wegen Doppelmoral! Mit Todesfolge, versteht sich. 

2 Gedanken zu „Anklage wegen Doppelmoral mit Todesfolge

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