Die Publikationen, welche sich kritisch mit dem Phänomen von Cancel Cuture auseinandersetzen, häufen sich. Dass sich jedoch eine renommierte Vertreterin der LINKEN dem Thema widmet, ist eine Besonderheit. Sie reagiert damit auf die innerparteilichen Auseinandersetzungen, die damit verbunden sind. Auch ihre Partei bleibt von der Erscheinung nicht verschont. Welche Linke oder welcher Linke hätte nicht ein tiefes Verständnis für die Opfer von Diskriminierung? Dass sich jedoch aus einem anti-diskriminatorischen Reflex eine Programmatik entwickelt hat, die ihrerseits sich im Metier der Diskriminierung virtuos bewegt, ist ein Novum. Sahra Wagenknecht hat sich in ihrem neuesten Buch „Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ diesem Thema verschrieben.
In der Analyse des Phänomens gehören die Ausführungen zu dem Treffendsten und Prägnantesten, was momentan zu finden ist. Sie beschreibt die Geschichte der Anti-Diskriminierung aus der Perspektive derer, die es als ein Kernstück linker Politik angesehen haben. Die aktuelle Erscheinung des Cancel Culture hat laut Wagenknecht mit diesem Anliegen nichts zu tun. Sie zeichnet anhand zahlreicher, vielen Leserinnen und Lesern bekannter Beispiele, dass es sich dabei um den Lebensgestus derer handelt, die neben den multi-nationalen Konzernen als die Gewinner der Globalisierung bezeichnet werden können. Es handelt sich um Akademikerinnen und Akademiker aus dem Mittelstand, die ihrerseits über internationale Erfahrungen verfügen und zumeist in den so genannten kreativen Berufen zuhause sind. Sie bilden prozentual eine kleine, aber medial omnipräsente Gruppe der Bevölkerung ab, die ihrerseits mit einer gehörigen Portion Arroganz auf die herabblicken, die als die Verlierer des globalen Wirtschaftsliberalismus bezeichnet werden müssen, nämlich diejenigen, die sich in unsteten Arbeitsverhältnissen zu miserablen Löhnen verdingen müssen. Mit linker Politik, so Wagenknecht, hat das alles nichts zu tun.
In mehreren Exkursen verweist die Autorin auf die historische Entwicklung der letzten vierzig Jahre. Es entsteht ein Portfolio, in dem Arbeiten, Wohnen, Bildung und Gesundheitsversorgung für einen Großteil der Bevölkerung sich zum schlechteren gewendet haben. Die Ursache dafür ist die neoliberale Ideologie, die nahezu die gesamte politische Klasse erfasst hat und die dem Marketing-Paket von Weltoffenheit, unbegrenzter Migration, der Propagierung internationaler Organisationen als notwendigem Gegensatz zu nationalem Handeln erlegen ist. Das Resultat ist verheerend und es entspricht keiner der Versprechungen, die der vermeintlich fortschrittliche politische Kosmopolitismus ausgerufen hat und immer noch ausruft.
Das im Untertitel angekündigte Gegenprogramm setzt folglich auf die Notwendigkeit im nationalen Rahmen mehr und besseres staatliches Handeln anzustreben, das auf der Grundsicherung von gut bezahlter Arbeit, allen Schichten zugänglicher Bildung, einem gerechten Rentensystem und einer für alle auskömmlichen Gesundheitsversorgung basiert und sich einer den Markt regulierenden Wirtschaftspolitik verschreibt. Dass diesem Ansinnen der Chor der neo- wie linksliberalen Verfechter der Globalisierung entgegenschlagen wird, ist verbrieft.
Wagenknecht liefert zahlreiche Argumente und verweist auf interessante Quellen, die ihre Argumentation stützen. Was ihr auf jeden Fall gelingt, ist die Entlarvung der Motive einer von ihr als Lifestyle-Linke bezeichneten Gruppe, die bei den Grünen die Herrschaft übernommen, die in der Sozialdemokratie die Schlüsselpositionen eingenommen hat und die sich in der Linken immer mehr zu Wort meldet und die medial gehypt wird wie kaum eine Bewegung zuvor. Ob die politische Alternative, die sie aufzeigt, eine Chance auf Realisierung haben wird, das steht in den Sternen.

Pingback: Von Lifestyle-Linken und der Zukunft der Globalisierung | per5pektivenwechsel
Klingt sehr interessant, was Du da über das Buch zusammengefasst hast.
Danke für den Hinweis und Deine Einschätzung.