Wohin soll das alles noch führen? Da bekommt man ja Angst!, fragte mich eine ältere Dame, die ihr ganzes Leben für viele Schattierungen der Emanzipation gekämpft hatte. Sie hatte sich eingesetzt für anständige Löhne, war gegen jegliche Form von Diskriminierung eingetreten, hatte sich für eine aktive Friedenspolitik eingesetzt. Was sie zu der Frage veranlasst hatte? Cancel Culture! Sie beklagte einen Zustand, der nach ihrer Ansicht alles auf den Kopf stellte, wofür sie sich in ihrem Leben eingesetzt hatte. Kurzum: sie versteht die Welt nicht mehr.
Nun ist es schwer, eine Bewegung, die ihren Ursprung im Kampf gegen Diskriminierung hatte, noch zu verstehen, wenn sie dazu geführt hat, täglich einen neues Feuerwerk der Diskriminierung gegen all jene abzufackeln, die aus ihrer Sicht für die Diskriminierung der Geschichte verantwortlich sind. Und die, das ist einer der Punkte, der allen gegen den Strich läuft, es fertig bringt, ihr heutiges Bewusstsein zum Maßstab zu machen bei der Beurteilung nicht nur der handelnden Zeitgenossen, sondern auch der weit in der Geschichte zurückliegenden Menschen, Gruppen und Nationen. Das führt häufig zu abseitigen und schrillen Thesen, die alles auf den Kopf stellen, was die Fähigkeit des Menschen in punkto Historisierung ausmacht. Da wird ein Immanuel Kant zu einem der Apologeten des Kolonialismus und Julius Caesar ein alter weißer Mann, der den Müll nicht getrennt hat. Wäre es nicht so absurd, Gelächter und gute Stimmung wären die Folge.
Was die Bewegung disqualifiziert, ist die Adaption der Methoden und Verhältnisse, die zu der ursprünglich beklagten Diskriminierung geführt haben. Viele bezeichnen das als Inquisition, oder die Herrschaft des Empörens. Man kann aber auch weiter gehen. Wenn Terror, sofern er noch nicht semantisch von den Liquidatoren der Sprache neu definiert wurde, von der Bedeutung bedeutet, Angst und Schrecken zu verbreiten, dann ist diese Bewegung auf der sicheren Seite. Denn, was das Recht auf freie Meinungsäußerung, genauer gesagt die Reaktion darauf anbetrifft, dann herrschen bereits Angst und Schrecken bei vielen, die alles andere als Kolonialisten, Imperialisten, Chauvinisten und neue Rechte sind. Der Schaden ist immens, und er übersteigt die des Begriffs Kollateral bei weitem.
Letztendlich kann beruhigen, dass dieser Charakter immer deutlicher wird. Was wenig Beachtung findet, ist ein anderer Aspekt. Denn das, was im Inland zu einer neuen Art des Hexenhammers mutiert ist, findet bei der Betrachtung desselben Milieus im Weltmaßstab nicht statt. Wenn es um Militäreinsätze in fremden Ländern geht, die zum Ziel haben, Ressourcen wie Öl oder Seltene Erden zu sichern, dann ist von den Cancel Culture-Ikonen seltsamerweise nichts zu hören. Ganz im Gegenteil, bei derartigen Kriegen, die ganz in der Tradition von Kolonialismus, Imperialismus und Chauvinismus stehen, sind sie nicht nur still, manche faseln dann auch noch davon, dass es sich dabei um eine Art notwendiger, robuster Verteidigung der eigene Werte ginge.
Die Probe aufs Exempel von Cancel Culture kann unter Arbeitstiteln wie Libyen, Syrien, Irak, Jemen, Venezuela, Chile und Kolumbien, aber auch Hongkong gemacht werden. Wenden Sie in diesen Fällen einmal die innenpolitische Logik von Cancel Culture an! Dann bleibt nichts als Leere! Oder eine Apologetik des alten Kolonialismus, verbrämt mit Werten, die im eigenen Land nicht zugestanden werden.
Um anfängliche Frage der Dame noch einmal aufzugreifen: Wohin das führt? Zu einer neuen Stufe des Kolonialismus, oder, um die Ängste zu nehmen, zu nichts, was auf Dauer Bestand hätte.

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Der Artikel bringt die Verlogenheit der Cancel-Culture-Verfechter auf den Punkt. Nur bin ich noch nicht überzeugt davon, dass das ganze auf Dauer keinen Bestand hat, ich hoffe es aber.
Ganz genau.
Der Empörungsfuror gepaart mit dem Gefühl moralischer Überlegenheit…
Modernes Pharisäertum. Oder darf man das jetzt auch nicht mehr sagen?
Applaus, Applaus und dabei wurde noch nicht einmal EPA erwähnt. (Economic Partnership Agreement) Die Zollverbotsstrangulierung Afrikas. Quasi die Kongokonferenz des 21.Jahrhunderts. Schweigen, Schweigen, Schweigen….