Archivmaterial aus dem alten Westen

Wer den Glauben genährt hat, dass ein betagter Veteran, der seit mehr als einem halben Jahrhundert in einem Regierungssystem Karriere gemacht hat, ganz zu Ende und zudem noch am Höhepunkt seiner Karriere einen mental innovativen Wurf zustande bringt, mag zwar an die unergründlichen Wege des Herrn glauben, als politischer Beobachter eignet er sich nicht. Dennoch ist festzustellen, dass das Gros der deutschen US-Berichterstatter diesem Irrtum unterliegen. Mit Joe, so hieß es, werde alles besser. Im Gegensatz zu Donald Trump könne sich die US-Politik nur in eine andere Qualität verwandeln. Das stimmt zwar, ob die allerdings aus der Interessenlage eines Mitteleuropäers besser ist, sei dahingestellt. Angesichts dieses journalistischen Irrtums kann man nur deshalb Milde walten lassen, weil, zumindest was das Gros der deutschen Politiker betrifft, weder eine Strategie noch eine realistische Einschätzung der amerikanischen Politik existiert. Da wird dann der Verbleib amerikanischer Streitkräfte auf dem Territorium der Bundesrepublik gefeiert wie der Endsieg. 

Dass Joe Biden und seine Familie nicht ganz uneigennützig auf die Ukraine schauen, ist kein Geheimnis. Dass daraus ein Interesse ableitbar wäre, das Land bis zu einem gewissen Grad durch Transfergebühren für Gaslieferungen nach Deutschland liquide zu halten, ist durchaus nachvollziehbar. Dass ein derartiges Interesse durchaus Bestandteil einer politischen Strategie sein kann, hat Joe Biden sowohl in der Vergangenheit als auch in den ersten Tagen seiner Präsidentschaft bewiesen. Die großen Koordinaten der Vergangenheit stehen: Die USA sind die Weltmacht Nr. 1, die bösen Kommunisten in China und Russland sind die Feinde der Demokratie und damit der USA und natürlich der Rest-Welt. Es handelt sich um Archivmaterial aus dem alten Westen.

Das ist schlicht, aber auch bei näherem Hinsehen ist da nichts zu sehen, was auf einen mentalen Wechsel von der Konfrontation hin zu einer globalen Kooperation spräche. Wenn davon die Rede ist, meint Biden das eigene Lager. Und das soll kooperieren, damit die Konfrontation mit dem Rest der Welt besser gelingt. Das klingt nicht nach einem Neuanfang, sondern an ein Kontinuum eines längst überwunden geglaubten Szenarios des Kalten Krieges, der nicht kalt bleiben wird. Nein, mit Joe Biden werden die USA genauso wenig ihre Strategie ändern wie es ihnen gelingen wird, die innere gesellschaftliche Spaltung zu überwinden, denn beides hängt miteinander zusammen. Solange sich die mächtigen Imperien dafür einsetzen, Zugang zu Menschen, Ressourcen und Märkten um jeden Preis für sich zu reklamieren, damit die Milliardäre, Oligarchen und Funktionäre ihren pathologischen Hunger nach astronomischen Gewinnen stillen, solange wird keine neue Qualität in die Politik auf diesem Planeten Einzug finden.

Die große, und vielleicht die finale Herausforderung, vor der die Welt im Osten wie im Westen, im Norden wie im Süden steht, ist die der Kooperation. Es geht um soziale Sicherung, die Bedingung für eine vertretbare globale Demographie ist, es geht um die Schonung der Natur, es geht um Frieden. Nicht mehr und nicht weniger. Weder Joe Biden noch seine Cheerleader von der Jubelbrücke haben dazu eine Vorstellung. Ginge es nicht um das höchste Gute, nämlich Raum und Zeit für die Gattung Mensch, könnte man nur ob dieser Armseligkeit die Nase rümpfen. Die tatsächliche Aufgabe, vor der eine neue, internationale Politik steht, ist die Kooperation. Und da geht es um Angebote, die niemand ausschlagen kann. Alles andere ist vertane Zeit. 

2 Gedanken zu „Archivmaterial aus dem alten Westen

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