Und wieder einmal muss der Blick nach Frankreich gehen. Was durch eine systematische Ignorierung der dortigen Verhältnisse seit ca. eineinhalb Jahren, als die Bewegung der Gelbwesten nahezu komplett in der hiesigen Berichterstattung ausgeblendet wurde, setzt sich fort und ergreift immer größere Teile der Gesellschaft. Die Spaltung in der französischen Gesellschaft ist ähnlich fortgeschritten wie in den USA, Macron ist, was den Reflex der Wählerinnen und Wähler in der Enttäuschung gegenüber den „etablierten Parteien“ anbetrifft, der französische Trump. Beide wurden ungefähr zur gleichen Zeit gewählt, beide waren ein Affront gegen das Establishment. Sie waren ein Reflex auf die Spaltung, aufgelöst haben sie sie nicht.
Macrons Versuch, aus seiner Sicht die französische Gesellschaft durch radikal-liberalistische Maßnahmen zu modernisieren, drängte diejenigen, die so gerne und abschätzig als die Verlierer der Globalisierung bezeichnet werden, noch mehr an den Rand. Was mit dem Protest gegen eine Benzinpreiserhöhung begann und damit zu erklären war, dass Tagelöhner sich nicht mehr den Sprit für ihr Moped bezahlen konnten und in die Städte kamen, um sich dort anzubieten oder zu arbeiten, aus denen sie längst aufgrund der Mieten verdrängt waren, wurde zu einer mächtigen Bewegung. Sie zu ignorieren, während man es nicht versäumte, erschütternde Berichte aus Hongkong, und neuerdings aus Belarus zu fertigen, stimmt skeptisch. Selektive Wahrnehmung ist ein Phänomen, das den Standpunkt stante pede entlarvt.
Die Entwicklung des französischen Widerstands gegen die Politik der Macron-Regierung wurde im Laufe der Zeit immer rasanter. Mehr und mehr Kräfte reihten sich ein in den Kampf gegen die weitere Verarmung. Die Rentenreform zeigte noch einmal die Kontur der Politik. Entrechtung der Versicherten und radikale Privatisierung illustrierten immer mehr Menschen, wohin die Reise ging. Beachtlich vor allen Dingen, dass sich die großen französischen Gewerkschaften wieder positioniert haben und den Widerstand mitorganisieren – im Gegensatz zu ihren deutschen Nachbarn.
Präsident Macron hingegen fackelte nicht lange. Zu Beginn der Corona-Krise ließ er zunächst keine Masken und Hygienemittel für die Krankenhäuser anschaffen, sondern orderte Equipment für die Polizei, vielleicht in weiser Voraussicht eines anschwellenden Widerstands. Dass in Folge der dramatischen Zustände in den französischen Krankenhäusern bei Protesten von Medizinern und Pflegepersonal die seit dem Ausnahmezustand wegen der Anschläge, die in den letzten Jahren Paris erschütterten, zu vielem autorisierten Polizeikräfte zuschlugen wie die Berserker, war wohl als leidlicher Kollateralschaden gesehen worden.
Doch es ging und geht immer weiter. Der Konflikt zwischen wachsenden Bürgerprotesten und der Regierung ist zu einem etablierten Dauerzustand geworden. Immer, wenn davon ausgegangen gen wird, die Lage könne nicht weiter eskalieren, kommt die nächste Welle. Die letzte begann damit, dass die Polizei innerhalb von Paris Zeltlager von Obdachlosen mit einer Brutalität sondergleichen räumte. Der Protest, der sich wegen solcher Aktionen formiert, wird mittlerweile von immer größeren Bevölkerungsteilen unterstützt, weil sie das staatliche Vorgehen nicht mehr ertragen. In den letzten Tagen folgte die Koinzidenz von einer brutalen Misshandlung eines dunkelhäutigen Musikproduzenten in seinem eigenen Geschäft seitens einer Polizeieinheit, die gefilmt worden war und einer von der Regierung eingebrachtenGesetzesvorlage, in der das Mit-Filmen von Polizeieinsätzen bei Strafe verboten werden soll.
Ob das, wie in der letzten Nacht in Paris zu sehen war, der Punkt war, der das Fass zum Überlaufen bringen wird, ist noch nicht abzusehen. So viel ist jedoch gewiss: dem Protest schlossen sich Hunderttausende an und in der Nacht brannte Paris, im wahren Sinne das Wortes. Dass das erste Gebäude, das in Flammen aufging, ausgerechnet die Zentralbank war, mag das ein Zufall sein?

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